Interview mit Etyen Mahçupyan

Wenn Gesellschaften sich selbst erliegen…

Wir haben mit Etyen Mahçupyan über die Gründe des ethnozentrischen Blickes, über Armenier in der Türkei und Hrant Dink gesprochen. Der armenisch-türkische Journalist ist bekannt für seine objektive Herangehensweise und seine Analysen.

06
07
2014
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Etyen Mahçupyan, geb. 1950 in Istanbul, ist ein armenisch-türkischer Journalist, Publizist und Politiker. Er schrieb in verschiedenen Tageszeitungen und hatte auch bei der als liberal geltenden Tageszeitung Taraf und der als konservativ geltenden Tageszeitung Zaman jeweils eine Kolumne.

Nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink übernahm Etyen Mahçupyan von 2007 bis 2010 die Position des Chefredakteurs der in armenischer und türkischer Sprache erscheinenden bekannten Wochenzeitung Agos. Die Kolumne bei der Zeitung Zaman gab Mahçupyan im Mai 2014 auf.

Unter anderem hatte er 2008 die Bücherreihe: „Den Westen verstehen“ und „Die Türkei verstehen“ auf den Markt gebracht. Auch erschien im gleichen Jahr das vielbeachtete Buch: „Es gab einmal Armenier…“ in dem Mahçupyan mit einem Beitrag vertreten ist. Im Jahr 2012 veröffentliche Mahçupyan das Buch „Die Angst vor der Lösung“, was die Probleme beim Demokratisierungsprozess in der Türkei analysierte. In diesem Jahr ist sein Buch „1915 – 2015 – Das Jahrhundertproblem“ erschienen, dass sich dem Konflikt zwischen Türken und Armeniern widmet.

 

IslamiQ: In welchen Gruppen beziehungsweise Gemeinschaften zeigt sich Ihrer Meinung nach der Ethnozentrismus am offensichtlichsten?

Etyen Mahçupyan: Mit dem Wort Ethnozentrismus wird eine „Ethnizität“ assoziiert, allerdings beobachten wir heute postmoderne Gebilde, die sich kommunenartig entwickeln und die sich vermehrt nicht-ethnisch, sondern konfessionell unterscheiden. Wenn wir uns darauf konzentrieren, zwischen welchen Gruppen solche Demütigungen, Ablehnungen oder Ausgrenzungen stattfinden, stellen wir fest, dass im Kern aller Gruppen eine solche Haltung existiert. Somit gibt es keinen, der dabei außen vor bleibt. Jedoch zeigt sich dieser (negative) Blick vor allem in Bereichen, in denen die Gesprächspartner sich nicht vollwertig wahrnehmen, weil beispielsweise kein öffentlicher Raum besteht, der die Begegnung und das Kennenlernen erzwingt. In Europa, aber auch auf der ganzen Welt gab es öffentliche Räume, die zwangsweise entstanden sind; und in gewisser Hinsicht die moderne Welt hervorgebracht haben. Aber eine Lebensweise, in der keine Begegnungen vorkommen und jeder in sich verschlossen ist, so dass jeder sich in seine eigene Welt verkriecht, genau in jenen Fällen entstehen Gruppierungen, die den „Anderen” nicht brauchen.

Gerade wenn wenig Informationen und viele Vorurteile über den „Anderen“ bestehen, wird die Ausgrenzung zum Reflex. Indem jemand den „Anderen“ ausgrenzt, nimmt er sich nicht als „jemanden, der ausgrenzt” wahr; sondern vielmehr als jemanden der sich schützt und seine Grenzen aufzeigt. Diese Person kann sich als ziemlich liberal und emanzipatorisch wahrnehmen, weil sie sagt: „Ich habe meine eigenen Grenzen gezogen. Alles andere kümmert mich nicht und jeder soll leben, wie er möchte.”

In Momenten der unvermeidbaren Reibereien formt sich jedoch ein Konstrukt, dass sich weder kennt noch sich kennenlernen möchte. Hinter solch einem Konstrukt verbirgt sich eine Haltung, die dem „Anderen” die Möglichkeit des Kennens vollkommen abspricht. Dies geschieht innerhalb der Beziehungen, zwischen Türken und Kurden, Sunniten und Aleviten, Muslimen und Nichtmuslimen. Die Demütigung des Stärkeren wirkt natürlich intensiver, gleichzeitig entwickelt „der Andere“ dabei dieselbe Sprache der Ablehnung. Beispielsweise wenn eine muslimische Gruppierung beziehungsweise Gemeinde über eine armenische Gemeinschaft in einer ausgrenzenden, rassistischen und ablehnenden Art und Weise spricht und sich dessen gar nicht bewusst ist. Dann wenden wir uns der Nicht-muslimischen Welt zu und erkennen, dass z. B. Juden oder Armenier genauso über diejenigen, die aus ihrer Perspektive „die Anderen“ sind, sprechen.

Je kleiner die Gruppe wird, desto mehr wird diese zu einem Schutzmechanismus und deshalb fühlt sich auch niemand schlecht. Ebenso muss sich, durch diesen Mechanismus, in einer großen Gemeinschaft niemand mehr schlecht fühlen, denn jeder hat sich diese als „Selbstverständlichkeit“ gewordene Perspektive angeeignet.

 

IslamiQ: Was sind die Ursachen dafür, dass heutzutage der Ausdruck „Armeniersamen“ als Beleidigung verwendet werden kann, und die Person, die diese „Beleidigung“ hört, Antworten geben kann wie „Nein, ich bin kein Armenier. Und das ist der Beweis dafür!“, und dass Begriffe wie „Rassismus, Ethnozentrismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nicht ausreichend bekannt sind, oder solche Unterstellungen nicht als Rassismus wahrgenommen werden?

Etyen Mahçupyan: Begriffe sind keine Dinge, die Gesellschaften vorgesetzt werden und gesagt wird: “Was für ein schöner Terminus, lasst uns doch ab sofort diesen Begriff benutzen”.

Wenn Sie zum Beispiel den Gemeinschaften die Demokratie näher bringen wollen und diese das Erzählte als gut befinden, macht das diese Menschen noch nicht zu Demokraten. Solche Prozesse sind Resultate gesellschaftlicher Bedürfnisse. Solche Bedürfnisse kommen dann erst ans Tageslicht, wenn „man auf die Nase fällt”. Beispielsweise erliegen die Gemeinschaften zunächst ihren eigenen Idealen, weil sie sich mit der Zeit als unmoralisch betrachten oder sie erleben Anpassungsprobleme an die eigene Zeit. Indem sie sich mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen entwickeln sie neue Kriterien und neue Begriffe mit deren Hilfe sie sich selbst von neuem betrachten können. Dieser Prozess verlief in Europa mit großen Konflikten.

In der Türkei, das sich seit ein paar Jahrhunderten modernisieren möchte, aber im Hinblick auf ein paar Aspekte diesen Prozess überhaupt nicht in Erwägung zieht, hat diese Entwicklung folgende Herausforderung überstanden:

Wir waren mit uns nicht selbstzufrieden. “Aber was ist das Richtige, was war der richtige Weg?” Die Antwort auf diese Frage war entweder eine imaginierte Wahrheit wie „Die Epoche der Glückseligkeit“ (Asr-i Saadet), oder realistische Wahrheiten wie die Moderne anzunehmen, die nicht zu „uns” gehörten. Die Wahrheiten, die uns nicht gehören, haben uns gefallen, aber dahinter verbirgt sich eine andere Kultur, in die wir uns nicht stürzen wollten, weil wir uns schützen möchten. Eines der grundlegendsten Probleme ist meiner Meinung nach, dass gegenüber der Annahme von neuen Wegen, eine Art von Ablehnung und Widerstand entsteht.

Es existiert eine weitere Komponente: Infolgedessen, das wir nicht bereit sind uns modern zu entfalten und gleichsam der heutigen universalen Ethik verweigern, entwickeln wir ein abgeschirmtes gemeinschaftliches Konstrukt, dass sich an Alte, vorhandene Dinge klammert. An diesem Ort fühlen wir uns beruhigt, und wenn wir dort „Armenischer Bastard” sagen, stört es uns nicht weiter, weil die Bezeichnung „Armenier“ nicht als Kompliment gemeint ist, sondern aus einer inner-gemeinschaftlichen Perspektive betrachtet ein etabliertes Schimpfwort ist. Das bedeutet auch, dass sich solch eine Person in einer Umwelt, die moralisch und kulturell ein niedrigeres Niveau hat und abfällig ist, wohler fühlt.

Schauen wir es uns aus der anderen Perspektive an. Es gibt zum Beispiel unter der armenischen Gemeinschaft die Verwendung „dacik”, dass man für Türken verwendet. „Dacik” ist eigentlich eine neutrale Bezeichnung, die aber in der Kommunikation zweier Armenier miteinander negativ konnotiert ist und meint, dass jemand unzuverlässig sei und man deswegen mit dieser Person nichts anfangen könne. Eigentlich wurden mit dieser Bezeichnung „nur” Türken bezeichnet, aber mit der Zeit wurden diesen Bezeichnungen so viele negative Charakteristika zugeordnet, dass es nunmehr rein negativ aufzufassen ist.

 

IslamiQ: Es scheint so, dass die Verachtung, die durch das ethnozentrische Gedankengut hervorgerufen wird, nur schlecht ist, wenn es „uns” selbst betrifft. Wie können wir es den Menschen verständlich machen, dass es nicht nur schlecht ist, wenn man selbst betroffen ist, sondern selbst „den Anderen als wertlos charakterisiert”?

Etyen Mahçupyan: Je mehr Beispiele die Menschen zu sehen bekommen, desto schneller können sie zu einer anderen Perspektive hinübergehen, die schlagartig ihren Blick verändern kann. Letztendlich hat jeder Mensch ein Gewissen und jeder besitzt ein moralisches Fundament. Jeder möchte sich, wenn man sich selbst betrachtet, als moralisch handelnden Menschen sehen. Wenn beispielsweise eine Person andere ethnische Minderheiten gering schätzt und merkt, dass andere ihn genauso gering schätzen können, ist er vielleicht in diesem Moment verdutzt. Dies führt vielleicht dazu, dass es für denjenigen schwierig ist, sich selbst zu betrachten und mit sich selbst kritisch umzugehen. Diejenigen Individuen, die genau dort weitermachen und ihre eigene Position kritisch betrachten, entfernen sich langsam aber sicher von der ethnozentristischen Perspektive.

Dafür werden sie auch „belohnt“: Jemand, der sich von diesem ethnozentrischen Blick befreien kann, wird mit sich zufriedener sein. Diese Person entwickelt sogar das Bedürfnis zu sagen: „Früher habe ich alles anders gesehen, aber jetzt habe ich mich geändert.”

Eines muss ich jedoch klarstellen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Mensch auf einmal dazu entscheidet, nicht mehr schlecht auf Andere zu schauen, ist sehr gering. Dies funktioniert mit einem inneren Impuls, einem Weckruf. Vielleicht wird es sogar nur dann bemerkt, wenn man selbst davon betroffen ist.

 

IslamiQ: Unter den Armeniern, die in der Türkei geblieben sind, waren die Ereignisse von 1915 so prägend, dass unter ihnen viele ihre religiöse als auch ihre nationale Identität völlig aufgaben. Was war der Grund dafür, dass diese Menschen gezwungen waren ihre Identitäten aufzugeben?

Etyen Mahçupyan: Die Konversion ist eine sehr tief verwurzelte Tradition. Vor allem durch die Seldschuken und später auch durch die Expansion der Osmanen wurden viele Griechen und Armenier zu Muslimen. Die Zahl derjenigen, die von außerhalb Anatoliens kamen, ist so gering, dass es demographisch nicht möglich ist, solch eine riesige muslimische Mehrheit aufzubauen. Man muss zunächst festhalten, dass viele der heute in der Türkei lebenden muslimischen „Türken” entweder griechischer oder armenischer Herkunft sind. Aber das ist ganz normal, weil damals das Wechseln der Religion gängige Praxis war und als sehr natürlich aufgefasst wurde.

In den Jahren um 1915 war wohl der wichtigste Antrieb die Selbsterhaltung, denn zu dieser Zeit stieß den Armeniern sehr viel zu und man ahnte, dass noch weitere Dinge folgen. Aus diesem Grund wechselten ganze Dörfer und Kleinstädte, in denen mehrheitlich Armenier lebten ihre Religion, um sich zu schützen. Es wechselten sogar so viele ihre Religion, dass Talat Pascha folgende Verordnung erlassen musste: „Auch wenn sie von jetzt an konvertieren, sollen sie wie Armenier behandelt werden.” Zudem gibt es natürlich die Praxis, das Viele, vor allem Mädchen, in Familien untergebracht und muslimisch erzogen werden sollten. Nachdem klar war, was mit den Zwangsdeportierten passieren würde, wurden die Kinder, mehrheitlich Mädchen, bei den Nachbarn untergebracht oder die umliegenden Nachbarn nahmen diese Kinder zum Schutz bei sich auf. Es wird geschätzt, das 100 bis 200 Tausend Mädchen betroffen waren. Darüber hinaus gab es Familien, die sich komplett versteckt haben. Diese Familien konnten dann später nicht mehr als Armenier auftreten. Mit Ausreden wie: „Die Verwandten sind zu Besuch”, lebten sie als „Muslime“ weiter. Ein Teil von ihnen wurde auch wirklich zu Muslimen. Sie sind bis heute Muslime und leben auch wie muslimische „Türken”. Genauso existieren diejenigen, die eigentlich türkische Muslime sind, jedoch weiter als armenische Muslime leben möchten. Und wieder andere sind sogenannte Scheinmuslime; die sich langsam aber sicher dem Christentum annähern. Wie Sie sehen existiert eine Vielzahl an Gruppen.

 

IslamiQ: Hrant Dink hatte den Ethnozentrismus wie folgt zusammengefasst: „Es ist eine Krankheit seine eigene Identität auf die Anwesenheit des Anderen zu positionieren. Wenn Du einen Feind brauchst, um Deine Identität zu beleben, dann ist Deine Identität krank.” Wann werden wir uns davon entfernen, einen Feind zu suchen, um wir selbst zu werden?

Etyen Mahçupyan: Wenn wir aufrichtige Menschen werden.

 

IslamiQ: Wir fragen aus diesem Grund: Der Kreis des „Anderen“, den wir generieren, ist manchmal nur noch so groß, dass im „wir” Menschen aus einem Land, einer bestimmten Stadt oder eines bestimmten Dorfes übrigbleiben.

Etyen Mahçupyan: Ja, solche Beispiele gibt es, jedoch werden diese Beispiele nur noch humoristisch betrachtet. Diese Entwicklung ist generell verbunden mit der Anpassung an die Welt. Der Wandel in den 1990 er Jahren hat Grenzen aufgehoben. Das führte dazu, dass Unterschiedlichkeiten, als angenehme Tatsache wahrgenommen wurden.

Eines der interessantesten Beispiele sind dafür die armenischen Familienangehörigen muslimischer Türken. Das hat man früher nie angesprochen. Heute reden die Menschen fast schon mit Stolz erfüllt darüber.

Die Menschen nehmen das Pluralistische beziehungsweise die Mischlingssituation Anderer als sehr positiv wahr; es existiert also ein sehr schneller Wandel in der Gesellschaft.

Es ist nicht möglich, dass dieser Wandel plötzlich ein neues gesellschaftliches kulturelles Gebilde hervorbringt. Diese Entwicklung wird einige Generationen brauchen, um sich zu etablieren. Das kann zwei oder drei Generationen andauern, bis Menschen aus verschiedenen Gruppen oder Identitäten zusammenkommen ohne sich gegenseitig zu Fragen: „Wer bist du?”

 

IslamiQ: Wie würden Sie Hrant Dink in seinem siebten Todesjahr beschreiben? Was ist mit seinem Tod alles verloren gegangen?

Etyen Mahçupyan: Hrant war ein besonderer Mensch und hat die Türkei an etwas bereits Vergessenes erinnert. Er war ein aufrichtiger und ehrlicher Mann aus Anatolien. Meiner Meinung nach hatte die Gesellschaft genau so jemanden vermisst. Es sind Jahrzehnte, voller Selbstschutz, Heuchelei und Eigennutz vergangen. Hrant tauchte als eine rehabilitierende und wohltuende Stimme auf. Er war einer, der alles was er fühlte und dachte, mit voller Aufrichtigkeit aussprach. Die Menschen haben eher auf diese Aufrichtigkeit als auf das Gesagte selbst geachtet. Das war etwas Ansteckendes. Wenn Sie so jemanden vor sich sehen, dann wollen Sie selber so jemand sein. Deswegen konnte Hrant auch Einfluss auf Menschen haben, die ihn nicht kannten. Er hatte es als notwendig empfunden, dass die Ansichten der Menschen in ihrer eigenen Welt, das Verhalten dieser zueinander und die Gedanken über die Armenier-Angelegenheit, sich ändern müssen.

Ich denke, dass Hrant maßgeblich dazu beigetragen hat, die Gesellschaft zu ermahnen. Vor Hrant hatten die Menschen es nicht für notwendig gehalten, darüber nachzudenken, sie hatten sogar Angst, sich daran zu erinnern, da sie nicht wussten, auf was sie treffen werden. Mit Hrant und den aufkommenden Diskussionen wurden sie daran erinnert, dass sie sich selber Böses antun, wenn sie sich nicht erinnern.

Das Gespräch führte Elif Zehra Kandemir