Debatte

Die Organspende aus islamischer Perspektive

Immer mehr Menschen warten auf eine Organspende. Die Politik versucht mehr Menschen zum Spenden zu motivieren. Der Theologe Hulusi Ünye erklärt, unter welchen Umständen aus islamischer Perspektive eine Organspende vorgenommen werden kann.

08
07
2023
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Symbolbild: Organspende © Shutterstock, bearbeitet by iQ
Symbolbild: Organspende © Shutterstock, bearbeitet by iQ

Die Organspende ist ein Thema, das in den letzten Monaten und Jahren stärker in den öffentlichen Fokus gerückt ist. Kampagnen und Aufklärungsarbeit sollen dazu beitragen, die breite Öffentlichkeit stärker für das Thema zu sensibilisieren. Ein Thema also, das viele Fragen und Unklarheiten aufwirft – auch aus islamischer Sicht.

In ihrer einfachsten Definition ist die Organtransplantation das Ersetzen eines Organs. Dabei wird das betroffene Organ, das seine Funktion im Körper nicht mehr erfüllen kann, durch ein gesundes Organ ersetzt. Für Menschen, deren Leben durch ein eventuelles Organversagen bedroht ist, bedeutet das eine Chance auf ein neues Leben und die Linderung ihrer Schmerzen. Für viele Patienten ist die Organtransplantation die letzte Hoffnung. Allerdings herrscht unter muslimischen Gelehrten verschiedene Meinungen zur Frage, ob und unter welchen Umständen eine Organtransplantation zulässig ist.

Der Mensch als ein erhabenes Wesen

Im Islam gilt der Mensch als ein erhabenes, würdevolles Wesen. Sein Körper wie auch seine Seele verdienen Schutz. Dieser Schutz gilt dem lebenden wie auch dem toten Körper. Ausgehend davon gibt es Unterschiede in den Urteilen bezüglich der Verwendung seiner Organe.

Eine wichtige Aufgabe des Menschen ist es, die eigene Gesundheit zu schützen. So ist auch der Schutz des Lebens einer von fünf Grundsätzen, der von allen Propheten erwähnt wurde. Krankheit hingegen ist ein Zustand, der die körperliche und die geistige Gesundheit der Person beeinträchtigt.

Im Falle einer Krankheit muss sich die Person einer Behandlung unterziehen, um wieder gesund zu werden. Dazu gehört, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, ob diese nun materieller oder geistiger Art sind. Der Prophet Muhammad (s) betonte in diesem Zusammenhang, dass es für jede Krankheit ein Heilmittel gibt und Muslime dazu angehalten sind, sich behandeln zu lassen. Für die Behandlung einer Krankheit sollten also alle Mittel eingesetzt werden, die dafür notwendig sind, sofern sie aus islamischer Sicht nicht verboten sind. 

Quellenlage zur Organtransplantation

Die Organ- und Gewebetransplantation kann im Allgemeinen ein Mittel sein, um eine gesundheitliche Beeinträchtigung aufzuheben. Im Koran und in der Sunna sowie in den klassischen Quellen der islamischen Rechtslehre (Fikh) findet sich jedoch keine klare Regelung zur Organ- und Gewebetransplantation. Daher haben sich die Gelehrten der jüngeren Zeit der Frage der Organtransplantation nur mit Vorsicht genähert.

Im Rahmen einer Organtransplantation wird ein gesundes Organ benötigt, das entweder einer lebenden oder einer verstorbenen Person entnommen werden kann. Wird das Organ einer lebenden Person entnommen, darf dies dem Spender keinen Schaden zufügen, was aus medizinischer Sicht nur bei einem Doppelorgan möglich ist. Handelt es sich um ein Einzelorgan, muss der verbleibende Teil des Organs seiner Aufgabe hinreichend nachkommen können. Das trifft zum Beispiel bei der Entnahme einer der Nieren zu, oder bei der Entnahme von Teilen der Leber oder der Bauchspeicheldrüse.

Die Organentnahme bei einer toten Person ist aus islamischer Sicht nur dann möglich, wenn der Spender klinisch tot ist, die Organe verwendbar sind und die erforderlichen gesetzlichen Genehmigungen vorliegen. Es wird zwischen einer Organentnahme bei einem lebenden Spender und bei einem bereits verstorbenen Spender unterschieden.

Urteil zur Organentnahme bei lebenden Personen

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass kein muslimischer Gelehrter die Ansicht vertritt, dass es zulässig wäre, einem lebenden Menschen ein Organ (wie das Herz oder das Gehirn) zu entnehmen, um es einem anderen Menschen zu transplantieren, wenn dadurch das Leben des Spenders gefährdet werden könnte. Ein solches Vorgehen wird von allen Gelehrten als „(Selbst)Mord“ bewertet. Hat die Transplantation den Tod des Organspenders zur Folge, dann ist das ohne Zweifel haram, sprich: verboten. Erfolgte eine derartige Transplantation gemäß dem Willen und der Zustimmung des Spenders, dann gilt das als „Selbstmord“. Wenn das Organ ohne die Zustimmung des Spenders entnommen wurde, dann haben diejenigen, die das getan haben, aus islamischer Sicht einen Mord begangen. Beides ist nicht zulässig und gilt als haram.

Die Transplantation von nicht lebenswichtigen Organen

Im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Organspende einer Person, die dem nicht zugestimmt hat, und die weder kurz- noch langfristig ihr Leben in Gefahr bringt, haben sich unter den Gelehrten zwei Grundpositionen herausgebildet:

1) Gelehrte, die eine Organtransplantation als grundsätzlich haram einstufen

Muslimische Gelehrte, die eine Organtransplantation als haram einstufen, betrachten die Entnahme eines Organs von einer lebenden Person, um es einer anderen Person zu transplantieren, als nicht zulässig – selbst dann, wenn es notwendig ist. Diese Gelehrten gehen von dem Grundsatz aus, dass der Mensch ein erhabenes Wesen ist. Ob er nun lebt oder tot ist, an seinem Körper kann nichts verändert und seine Organe können auch nicht einer anderen Person gegeben werden. Sie begründen ihr Position mit der Tatsache, dass Allah den Körper des Menschen geschaffen hat, damit er diesem Nutzen bringt und lebt. Auch der Mensch selbst besitzt keinerlei Verfügungsgewalt über seinen Körper. Davon ausgehend ist es aus ihrer Sicht auch nicht möglich, eine Transplantation von einem lebenden Wesen durchzuführen. Der Grundgedanke lautet etwa: Etwas, was seinem Wesen nach haram ist, kann im absoluten Sinne nicht einmal geschenkt werden.[i]

Laut diesen Gelehrten bringt sich der Mensch während und nach der Organtransplantation selbst in Gefahr, was als nicht zulässig betrachtet wird. Hierzu heißt es im Koran: „Stürzt euch nicht mit eigener Hand ins Verderben.“[ii] und „Bringt euch nicht selbst ums Leben.“[iii]

2) Gelehrte, die einer Organtransplantation unter bestimmten Bedingungen zustimmen

Gelehrte, die die zweite Grundposition vertreten, erlauben eine Organtransplantation mit der Zustimmung des lebenden Spenders, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die führenden Gelehrten und Fatwa-Institutionen der islamischen Welt teilen heute diese Ansicht. Demnach gelten auch die an dieser Stelle aufgeführten Bestimmungen für Notstandssituationen. Der koranische Grundsatz „Wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten“[iv] trifft auch auf diese Situation zu. Da es in Koran und Sunna keine klare Regelung zu diesem Thema gibt, wird auf den Grundsatz zurückgegriffen, dass etwas, was nicht verboten ist, erlaubt ist – nach diesem Ansatz also auch eine Organtransplantation. Diesem Ansatz zufolge kann der Mensch über seine eigenen Organe verfügen.

Die Gelehrten dieser Grundposition stellen jedoch klar, dass dies nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist, so etwa, dass die Organentnahme freiwillig und ohne Gewaltanwendung erfolgt, dass ein Notfall und die Überzeugung vorliegen muss, dass die Organtransplantation erfolgreich verlaufen wird. Zudem dürfen dem Spender keinerlei (gesundheitlichen) Beeinträchtigungen nach der Organentnahme drohen und für das entnommene Organ oder Gewebe darf keinerlei Gegenleistung bzw. Gebühr erhoben werden.

Urteil bezüglich einer Organentnahme bei Verstorbenen

In der islamischen Lehre gibt es viele Beschreibungen für den Tod. Die bekannteste ist, dass sich beim Tod die Seele vom Körper trennt. Was die Organentnahme bei Verstorbenen betrifft, sind diejenigen Gelehrten der ersten Position, die entschieden gegen die Organtransplantation sind, auch in diesem Falle dagegen. Die Gelehrten der zweiten Grundposition sagen jedoch, dass der Tod (des Spenders) dabei wie oben beschrieben erfolgt sein muss.

Wenn man heute von einer Organentnahme bei verstorbenen Spendern spricht, denkt man dabei an solche Patienten, bei denen bereits ein Hirntod eingetroffen ist. Bezüglich der Frage einer Organentnahme von hirntoten Patienten sind die Rechtsgelehrten unterschiedlicher Meinung – es gibt solche, die es erlauben, und andere, die es ablehnen.

Muslimischen Gelehrte, die eine Organtransplantation aus islamischer Sicht als legitim betrachten, erklären, dass folgende Grundsätze befolgt werden sollten:

1) Jeder Mensch hat, unabhängig von Religion, Herkunft und Hautfarbe, sowohl im Leben als auch nach dem Tod das Recht auf die Unverletzbarkeit seines Körpers.
2) Das Recht auf eine notwendige medizinische Behandlung ist genauso wichtig wie das Recht auf Leben.
3) Im Rahmen einer Organentnahme bei einem lebenden Spender müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • Das Organ wird dem Spender nicht unter Gewaltanwendung, nicht gegen seinen Willen entnommen, sondern gemäß seinem Willen und mit seinem Einverständnis.
  • Es liegt ein Zustand der Notwendigkeit und des ernsthaften Bedarfs vor.
  • Es muss die feste Überzeugung von Experten bestehen, dass eine Operation im Rahmen einer Transplantation auch Erfolg haben wird.
  • Für das entnommene Organ oder Gewebe darf keinerlei Gegenleistung bzw. Geld oder dergleichen verlangt werden. 
  • Ärzte, die eine Organentnahme durchführen, müssen der festen Überzeugung sein, dass die Organentnahme dem Spender nicht schadet.

Damit eine Organentnahme bei einem verstorbenen Spender zulässig ist, muss der Tod nach den Maßstäben der islamischen Rechtslehre eingetreten sein. Das heißt: Der Tod muss mit absoluter Gewissheit eingetreten sein. Dabei gilt der Hirntod als eine Art Koma, also nicht als absoluter Tod. In diesem Sinne ist eine Person, bei der der Hirntod eingetreten ist, noch am Leben, weshalb es nicht zulässig ist, lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden und ihre Organe zu entfernen. 

[i] Haylamaz, Reşit, „İslam Hukukuna Göre Organ ve Doku Nakli“; At-Tamimi, Radschab Buyud, Munakascha, Madschallatu Madschma al-Fikh al-Islâmi, Bd. 1, Nr. 4, S. 467-468

[ii] Sure Bakara, 2:195

[iii] Sure Nisâ, 4:29

[iv] Sure Mâida, 5:32