Am 11. Juli 1995 wurden in Srebrenica mehr als 8000 Muslime ermordet. Ein Genozid mitten in Europa. Mit dem Friedensmarsch „Marš Mira“ wird jährlich an diese Opfer erinnert. Kübra Layık nahm auch dieses Jahr wieder dran teil. Ein Erfahrungsbericht.
Mit blutigen Händen sitzt sie am Straßenrand. Ihr Kopftuch ist verrutscht und an ihren grauen Haaren schimmert das Rot durch. Um ihre Augen hat sich ein dunkelblauer Ring gebildet. Viele solcher Fotos hat Fata Orlović in ihrem Fotoalbum festgehalten, voller Sorgfalt archiviert und beschriftet. Mit jedem Foto erzählt sie mir ihre Geschichte.
Ich sitze in ihrem Wohnzimmer, mache mir Notizen und lasse die Kamera laufen. „Sie haben mich geschlagen und beleidigt, aber ich habe deswegen keine einzige Träne vergossen“, sagt Fata Orlović.
Auf einem anderen Foto zeigt sie mir, wie sie Milorad Dodik, dem Präsidenten der Republika Srpska, in einem Gerichtssaal gegenübersitzt. Dabei gibt sie mir ein Zeichen, dass ich von dem „Burek“ essen soll, welches sie mir mit der selbstgemachten Limonade serviert hat. „Ich habe weder lesen noch schreiben gelernt, aber trotzdem haben mir alle im Gerichtssaal zugehört. Für Gerechtigkeit muss man nur laut genug sein“. Das war sie. Sie schüttet mir noch ein letztes Mal was von der Limonade in mein Glas, bevor wir uns verabschieden. „Hvala Majka“ (dt. Danke Mutter), sage ich zum Abschied und gehe an ihrem Grundstück vorbei, wo mal einst eine Kirche stand.
Fata Orlović war wegen des Genozids in Bosnien und Herzegowina Anfang der 1990er-Jahre gezwungen, mit ihren Kindern aus ihrem Zuhause zu fliehen. Ihr Ehemann wurde bei dem Völkermord von Srebrenica ermordet. Nach Ende des Genozids kehrten Orlović und ihre Familie nach Hause zurück und mussten feststellen, dass auf ihrem Land eine Kirche gebaut worden war. Mehr als zwei Jahrzehnte lang kämpfte Orlović hartnäckig, um ihr Familieneigentum zurückzuerhalten. Dies führte zu einem fünfzehnjährigen Rechtsstreit. Am Ende wies das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina die Klage der Familie ab. Gemeinsam mit ihren Kindern, Nichten und Neffen beschloss Orlović, den Kampf um Gerechtigkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg weiterzuführen. Orlovićs langer Rechtsstreit endete im Juni 2021. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Bosnien und Herzegowina die Kirche vom Land ihrer Familie entfernen musste.
Einfach war dieser Kampf für Orlović nicht. Sie wurde von serbischen Nationalisten geschlagen, schikaniert und bedroht. „Daraufhin habe ich mit eigenen Händen den Zaun um die Kirche herum herausgerissen und ihnen vor das Kirchentor gelegt“, erzählt Orlović mit einem Lächeln im Mundwinkel. Für viele Menschen in Bosnien ist Fata Orlović eine Heldin, deren Tapferkeit und Mut hochgeachtet wird. Sie war laut. Nicht nur für sich selbst, sondern für alle Opfer des Genozids.
Dieses Mal ist es kein regnerischer und grauer Morgen in Nezuk. Die Sonne strahlt und wärmt unsere Gesichter. Und auch die Nena steht wieder vor ihrem Haus und verteilt ihre Marmeladenbrote. Es ist ein schönes Wiedersehen mit den Menschen, die ich letztes Jahr beim Marš Mira kennenlernen durfte. Auch in diesem Jahr werden wir wieder drei Tage (100 km) gemeinsam laufen, lachen, weinen und schweigen.
Hasan Hasanovic, der bereits letztes Jahr unsere Gruppe angeführt hat, wartet auf dem Dorf-Schulhof auf uns. Für ihn ist es in diesem Jahr belastender als sonst. „Wärt ihr nicht gekommen, dann wäre ich dieses Jahr das erste Mal nicht mitgelaufen“, sagt er. Seit einiger Zeit wird er von der serbischen Polizei beobachtet, mit der Begründung, dass dies für seine Sicherheit sei. Auch habe man ihn davor gewarnt, beim Marš Mira mitzulaufen – für seinen Schutz. Doch wer muss vor wem geschützt werden?
Drei Tage laufen wir durch dichte Wälder, über hohe Berge und tiefe Täler. Immer an den Spuren des Genozids entlang. Die Stellen der Massengräber sind mit Schildern gekennzeichnet. In den Wäldern sehen wir alte, zerrissene Klamotten und Schuhe von den Menschen, die 1995 den „Todespfad“ geflohen sind. Überlebende erzählen uns ihre Geschichten, während wir gemeinsam die Route beschreiten. Menschen aus aller Welt kommen zusammen, um gemeinsam zu gedenken. Es fühlt sich magisch an. Und je mehr wir uns unserem Ziel nähern, desto mehr füllen sich die Herzen mit Trauer und Ehrfurcht.
Es sind die letzten Meter bis zu unserem Ziel – Potočari. Das Gefühl ist mir aus dem letzten Jahr bekannt. Dennoch wirkt es dieses Mal anders. Fühle ich mich schuldig? Schuldig, weil ich fühle, was ich fühle, aber dennoch nicht nachvollziehen kann, was die Menschen alles durchmachen mussten und immer noch durchmachen. Wir betreten die Gedenkstätte. Alles schweigt. Unter der Abendsonne streifen unsere Schatten die weißen Grabsteine. Wir gedenken, beten und nehmen Abschied, mit dem Versprechen, sie auch nächstes Jahr wieder zu besuchen.
Es ist unser letzter Abend in Srebrenica. Beherbergt werden wir von den Dorfbewohnern, die uns ihre Häuser für die Nacht zur Verfügung gestellt haben. Im Haus gegenüber wurde das Abendessen vorbereitet. In einer großen Runde sitzen wir gemeinsam auf dem Boden, essen und unterhalten uns. Und plötzlich ist jede Anstrengung des Marsches vergessen, jeder Schmerz gestillt und die Erschöpfung vergangen. Uns umringt die bedingungslose Gastfreundschaft der Bewohner. Es ist heilend.
Zum Abendessen besuchen uns Nura Mustafić und Refija Hadžibulić – die Mütter von Srebrenica. Refija hat durch den Genozid zwei Söhne und ihren Ehemann verloren. Nura hingegen drei Söhne und ihren Gatten. Die Frauen sind gezeichnet, aber zugleich immer noch so stark. Die beiden Mütter von Srebrenica sind oft gemeinsam, weil sie – wie sie selbst sagen – einander am besten verstehen können. Der Abend neigt sich dem Ende zu und bevor wir uns in unsere Betten legen, nehmen wir ein Versprechen entgegen. Das Versprechen, welches wir Hasan gegeben haben.
Hasan Hasanovič kämpft unermüdlich, jeden Tag für Gerechtigkeit und für das, was ihm und seinen Brüdern widerfahren ist. Hasan hat den Genozid überlebt, seine Brüder wurden jedoch während der Flucht von Srebrenica nach Nezuk ermordet. Für ihn ist der Marš Mira nicht nur ein Akt des Gedenkens, sondern vielmehr der Kampf, um nicht vergessen zu werden. Dass seine Geschichte und die Geschichte alle anderen gehört werden. Sein Wunsch ist es, dass der Marš Mira auf der ganzen Welt immer mehr an Aufmerksamkeit gewinnt und dadurch einmal mehr als 15.000 Menschen daran teilnehmen.
Wir nehmen seine Hoffnung, seinen Wunsch und seinen Kampf mit nach Deutschland und das Versprechen, welches wir ihm gegeben haben: Mit jedem Jahr werden immer mehr Menschen am Marš Mira teilnehmen. Wir werden darüber sprechen und das Gedenken aufrechterhalten – versprochen Hasan! Bis nächstes Jahr.
In Erinnerung an alle Opfer, an die Überlebenden und Angehörigen des Genozids in Bosnien 1992-1996. Wir werden euch nicht vergessen!