In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Auch wenn sie eine unterschiedliche Herkunft haben und verschiedene Meinungen vertreten, bilden sie in vielen Themen eine Einheit. Dr. Ahmet Inam schreibt über die Bedeutung dieser Vielfalt.
In Deutschland gibt es vier große muslimische Religionsgemeinschaften und weitere kleinere Gemeinschaften und Vereine. Sie unterscheiden sich in ihrer kulturellen Herkunft und gehören unterschiedlichen theologischen Schulen an. Zudem haben sie zum Teil unterschiedliche ideelle Auffassungen und vertreten unterschiedliche politische Positionen.
Innerhalb muslimischer Debatten finden sich sunnitische, sufische, salafistische, schiitische, moderne und konservative Ansichten. Nicht selten werden diese Debatten hitzig geführt. Doch sobald der Muezzin zum Gebet ruft, versammeln sich alle Muslime, bilden eine Einheit und beten zusammen in Richtung Kaaba. Selbst diejenigen, die stur sind und meinen, nicht gemeinsam beten zu wollen, beten zu der von Allah festgesetzten Zeit in die von Allah gewählte Gebetsrichtung. Somit bilden sie als betende muslimische Ganzheit, gewollt oder ungewollt, eine islamische Einheit.
Es gibt viele Themen über die Muslime unterschiedliche Meinungen haben. Dazu gehört die Halal-Zertifizierung von Lebensmitteln und deren Zutaten, genauso wie die theologische Diskussion über die Eigenschaften Allahs und über das richtige Staatssystem oder die Fastenzeit. Sobald aber der Monat Ramadan wieder da ist, fasten sie alle zu den von Allah vorgeschriebenen Zeiten.
Wie alle anderen Glaubensgemeinschaften besteht die muslimische Gemeinschaft aus unterschiedlichen Völkern. Doch sobald die alljährliche Hadschzeit anbricht, versammeln sich Millionen von Muslimen, ob Mann oder Frau, ob arm oder reich, ob schwarz oder weiß, an einem Ort und preisen Allah und akzeptieren alle diese menschliche Vielfalt als eine Einheit zu akzeptieren, denn anders geht es nicht!
Auch ihre Hochzeiten feiern Muslime unterschiedlich. Sie haben verschiedene kulturelle Zeremonien, unterschiedliche Kleider sowie diverse Gewohnheiten und Erfahrungen. Doch sind alle der Überzeugung, dass Töten, Diebstahl, Meineid, Obszönes und Unzucht im Islam verboten sind.
Sie entwickeln unterschiedliche Lösungen zu verschiedenen Problemen, ob religiös oder sozial. Sie haben unterschiedliche Ansichten darüber, welche Handlung aktuell dringlich ist, welche Aktionsform gerade gesellschaftlich wichtig ist, aber sie alle glauben fest daran, dass „gute Taten“ für ihre Glaubensgeschwister und für alle Menschen Gottgefälliges sind, Böses verhindert und Sünden tilgt.
Auch haben Muslime unterschiedliche Auffassungen über die Erziehung von Kindern. Die einen legen mehr Wert auf das Religiöse in der Erziehung, andere mehr auf das Weltliche. Die einen finden Traditionelles hilfreich, andere Modernes. Doch alle wissen: Diese Kinder sind die muslimische Zukunft in der hiesigen Gesellschaft. Und um diese Kinder und Enkelkinder geht es! Sie sind uns von Gott anvertraut und wir haben die Verantwortung ihnen den Islam aufrichtig zu vermitteln sowie sie über die Glaubensgrundlagen, Praxis, Tugend und Gebote und Verbote aufzuklären. Wir haben die Verantwortung, sie vor obszönen, schlechten, radikalen Dingen und Handlungen zu bewahren. Wir tragen nicht nur die Verantwortung dafür, dass sie sich als Bürger dieses Landes wahrnehmen, wir haben zusätzlich die Verantwortung ihnen den Mut beizubringen, sich nicht irgendwelchen Modebewegungen, radikalen Gruppierungen oder sexuellen Ausschweifungen hinzugeben, die Allah missfallen.
Die großen Religionsgemeinschaften stehen in der Pflicht, die weltlichen, kulturellen oder ideellen Unterschiede beiseitezulegen und sich als eine Einheit auf das Essentielle im Islam zu konzentrieren. Andernfalls werden wir unsere Kinder an die radikalen Gruppierungen verlieren, ob diese nun religiös sind oder säkular. Als eine Gemeinschaft der Mitte ist es die Pflicht der großen Religionsgemeinschaften, sich den Problemen der Muslime (und der Mehrheitsgesellschaft) zu widmen und (wenigstens) das Essentielle im Islam zu bewahren.
Wer sich bloß auf die zutreffende, aber verzerrt dargestellte Tatsache verlässt, dass Allah „seine Religion bis zum Jüngsten Tag bewahren wird“, muss beachten, dass Allah seine Religion in jedem Fall bewahren wird, aber nirgends die Garantie gegeben hat, dass unsere Kinder nicht abirren werden. Als Eltern, Nachbarn und Gemeinde haben wir die Aufgabe und Verantwortung, unsere Kinder nicht vom richtigen Weg abschweifen zu lassen.
Würde man all die oben genannten Unterschiede, die uns Muslime oft beschäftigen, weiter hinten anstellen und das Wesentliche, das Fundament der Religion an erster Stelle setzen, würde ein jeder Muslim nicht anders können, als zuzugeben, dass die Muslime weltweit eine Einheit bilden und es würde offenbar, was sie der Gesellschaft bieten können.
„Haltet euch allesamt an Allahs Seil fest, zersplittert euch nicht!“ (Sure 3:103)