Aufgrund der historischen Verantwortung Europas wird das Leid der Palästinenser ignoriert und ihr Existenzrecht kaum erwähnt. Was aber ist die „historische Verantwortung“ der Muslime und warum dürfen sie nicht aufhören, über Palästina zu sprechen?
Wir, Menschen aus dem Globalen Süden, sind mit Palästina aufgewachsen. Wir kennen das Leid Palästinas in- und auswendig. Wenn wir in Palästina/Israel sind, dann verweilen wir nicht nur am Strand in Tel Aviv, sondern sprechen mit Palästinenser, besuchen al-Halil, al-Quds, Ramallah. Unsere Augen sind immer auf Palästina gerichtet, wir demonstrieren seit Jahren für die Rechte der Palästinenser.
Es macht uns wütend zu sehen, dass die „historische Verantwortung“ Europas Palästinenser ausblendet, nie über das Lebensrecht Palästinas spricht, ihr Leid ignoriert.
Seit Wochen sind meine Freunde nicht ansprechbar. Sie erzählen davon, wie oft sie in Tränen ausbrechen, wie Selbstverständlichkeiten im Alltag, wie eine warme Mahlzeit, das Glas Wasser, die heiße Dusche zu einer Qual wird, da sie nur an die Menschen in Gaza denken, denen dies alles verwehrt bleibt. Neben all der Trauer versuchen sie aufzuklären, sind auf der Suche nach den richtigen Worten, nach den richtigen Bildern, um zu zeigen, dass Palästinenser auch Menschen sind, die Träume, Familie und Rechte haben.
Währenddessen wird uns erklärt, wir würden nur so laut für Palästina einstehen, weil hier das „Feindbild“ passe, weil wir ja alle antisemitisch seien. Deshalb würden wir heute auch nicht so laut gegen die Gräueltaten im Sudan oder gegen die massenhafte Vertreibung von Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan aufschreien.
Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber hier in Österreich habe ich bisher noch keine Politiker gehört, die den Genozid im Sudan befürwortet haben. Ich habe keine Zeitungsartikel gelesen, die versuchen uns zu erklären, dass afghanische Menschen in Pakistan ja patriarchal wären, potenzielle Terroristen, die falsche Partei unterstützen würden und deswegen unsere Solidarität nicht „verdienen“ würden. Dass sie selbst schuld an ihrer Misere wären. Österreich hat auch nicht gegen eine Waffenruhe im Sudan gestimmt oder mit meinen Steuern die Vertreibung von Afghanen aus Pakistan mitfinanziert. Österreich steht nicht in voller Solidarität hinter der pakistanischen Regierung.
Aber Österreich unterstützt gerade eine rechtsextreme und korrupte Regierung, die offen von „Vertreibung“ und „human animals“ spricht und stimmt gegen eine Waffenruhe, weil Formulierungen, Bezeichnungen unzureichend sind. Kann es vielleicht sein, dass ich deswegen so laut bin, weil dies nicht mit „unseren Werten“ zusammenpasst, von denen man sonst so oft spricht?
Heute sprechen alle wieder von „importiertem“ Antisemitismus. Nutzen die Gunst der Stunde, um wieder mit dem Zeigefinger auf Muslime zu zeigen, von Abschiebungen, Kopftuchverboten zu sprechen. Sie hätten ja immer schon gewarnt, aber man wollte ja nicht auf sie hören. Jetzt habe man den Salat.
Ich könnte jetzt mehrere Beispiele von antisemitischen Politikern im österreichischen Parlament aufzählen, auf Statistiken verweisen, die zeigen, wie fast 95 % aller antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten ausgeübt werden, die antisemitischen WhatsApp-Leaks von AG-Funktionären und Juristen in Erinnerung rufen. Die Liste ist lang. Aber darum geht es mir heute nicht.
Jüdinnen und Juden haben in der Vergangenheit immer in Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung vor den Pogromen und der Vertreibung durch Europäer Zuflucht gefunden und in Freiheit ihre Religion ausgeübt. Schon vor dem Holocaust.
Als Muslime in Andalusien von 711 bis 1492 regierten, schufen die Araber eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten. Diese Zeit wird im Judentum als das „goldene Zeitalter“ bezeichnet. Dieses Zeitalter wird 1492 endgültig mit dem Ausweisungsedikt der katholischen Könige beendet und Juden sowie Muslime entweder zur Konversion zum Christentum oder zur Emigration aus Spanien und Portugal gezwungen. Auf Einladung des damaligen Sultans Bayezid II. nahm das osmanische Reich sephardische Juden auf, die aus der iberischen Halbinsel vertrieben wurden und gewährte ihnen Schutz und eine neue Heimat. Wieder andere flüchteten in die Länder der Levante, nach Nordafrika, in den Balkan.
Als die Nazis an die Macht kamen und Jüdinnen und Juden vor und während des Holocaust aus Europa fliehen mussten, hat erneut die Türkei ihnen Zuflucht gewehrt. Albert Einsteins Brief an den damals amtierenden Ministerpräsidenten Ismet Inönü (17.9.1933) belegt die Bitte des Wissenschaftlers, jüdische Akademiker in der Türkei aufzunehmen. Dank ihnen konnten sich die ersten modernen Universitäten in Istanbul etablieren.
Als Nazis Frankreich besetzten, haben türkische Diplomaten in Frankreich Jüdinnen und Juden türkische Reisepässe gegeben, damit sie in die Türkei fliehen können. Dabei haben sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. In der Dokumentation „Der türkische Reisepass“ erzählen Überlebende eindrucksvoll von ihren Erlebnissen und der Flucht.
Auch in Bosnien haben Muslime den gelben Stern von Jüdinnen und Juden mit ihrem Schleier versteckt, fälschten für ihre jüdischen Mitmenschen Dokumente mit christlichen Namen. Das alles haben sie gemacht, als das Verstecken von Jüdinnen und Juden in Europa mit dem Tod bestraft wurde.
Palästinenser haben europäische Flüchtlinge, Holocaust-Überlebende willkommen geheißen, weil Europa ein Antisemitismus-Problem hatte. Großbritannien, Kanada und die USA haben damals Schiffe mit Jüdinnen und Juden einfach weggeschickt. Heute sind das aber ausgerechnet jene Länder, die entschieden hinter Israel stehen, Waffen exportieren und gegen eine Waffenruhe stimmen. Palästinenser waren es, die ihre Häuser öffneten, ihre Mahlzeiten teilten, nur um ein bis zwei Jahre später die „Nakba“ zu erleben und selbst zu Flüchtlingen zu werden. Bis heute tragen sie die Schlüssel zu ihren Wohnungen bei sich und warten darauf, zurückkehren zu können, während ihnen nicht einmal die Einreise erlaubt wird.
Und jetzt werfen ausgerechnet Europäer den Palästinensern „Antisemitismus“ vor. Blenden Machtstrukturen aus, verharmlosen 75 Jahre Besatzung und Unterdrückung, schlagen ihnen vor, doch einfach das Land zu verlassen. Unterstützen Krieg gegen sie. Was ist eigentlich mit der historischen Verantwortung Europas gegenüber Palästina und ihren Menschen?
Übrigens waren es Kolonialisten aus Europa, die den modernen Antisemitismus in den Globalen Süden „importiert“ haben.
Es wäre falsch zu behaupten, dass es an diesen Orten überhaupt keine Ausschreitungen gab, keine Vorfälle, keine Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden. Die gab es, aber sie waren nicht die Norm, wie es in Europa der Fall war. Deshalb bin ich der Meinung, dass es unsere „historische Verantwortung“ ist, dass wir, Menschen aus dem Globalen Süden, erneut unsere Stimme erheben, wenn vor unseren Augen ein Genozid stattfindet und gleichzeitig differenzieren und keine antisemitischen Äußerungen oder Taten dulden.
Weil unsere Vorfahren das so vorgelebt haben.