Die Auswirkungen der Gewalteskalation im Nahostkonflikt sind auch in Deutschland zu spüren. Immer mehr Muslime werden angefeindet und sorgen sich um ihre Zukunft. Ein Gespräch.
In den vergangenen Jahren hat Deutschland einen alarmierenden Anstieg von antimuslimischem Rassismus erlebt. Muslime sehen sich zunehmend mit Vorurteilen, Diskriminierung und Übergriffen konfrontiert. Ein besonders besorgniserregender Aspekt ist die Zunahme physischer und verbal aggressiver Angriffe gegenüber Muslimen, die ihren Glauben offen zeigen. Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, werden oft Opfer von Anfeindungen und Übergriffen– eine schockierende Entwicklung in einem Land, das vorgibt, Toleranz und Meinungsfreiheit zu schätzen. Laut Statistiken gibt es derzeit pro Tag drei Fälle von antimuslimischem Rassismus.
Die rassistischen Untertöne werden auch in der politischen Debatte immer lauter. Die Verbreitung von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Muslimen hat längst die politische Bühne erreicht. Die Medienlandschaft ist ebenfalls weiterhin Teil des Problems. Anstatt die Vielfalt der muslimischen Gemeinschaft darzustellen, neigen Medien dazu, stereotypische Darstellungen zu verstärken. Die fehlende Sensibilität in der Berichterstattung trägt dazu bei, Vorurteile zu festigen und Ressentiments zu schüren.
Nach dem 7. Oktober 2023, mit Beginn des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel und der darauffolgenden Gewalteskalation im Gazastreifen, blieb auch Deutschland nicht von den alarmierenden Auswirkungen verschont. Trotz der Hoffnungen auf eine fortschrittliche und inklusive Gesellschaft sehen wir uns vor allem nach diesem Ereignis einer traurigen Realität gegenüber, die von zunehmender Intoleranz und Diskriminierung geprägt ist. Die Spaltung in der Gesellschaft vertieft sich, während vor allem rechtsextremistische Gruppen sich bestärkt fühlen. Anstatt eine Einheit zu bilden, die sich gegen Hass und Vorurteile stellt, scheinen Teile der Gesellschaft bereit zu sein, in die Fallen von Extremisten zu tappen, indem sie antimuslimischen Rassismus tolerieren oder gar unterstützen.
Muslime oder Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, müssen sich täglich dieser Realität stellen. Wie gehen sie mit diesen täglichen Anfeindungen um? IslamiQ sprach mit drei Muslimen, die ihre Ängste, Sorgen und Gedanken teilen.
Menschen, die in Deutschland Rassismus erleben, stellen sich immer wieder die Frage, wie ihre Zukunft in diesem Land aussehen wird. Diese Überlegungen sind durchaus berechtigt, wenn man die steigenden Zahlen rassistischer Angriffe betrachtet. Ein Gefühl der Unsicherheit und Angst breitet sich aus. Auf Social Media äußern sich Muslime zunehmend zu ihren immer schlimmer werdenden Rassismuserfahrungen und hinterfragen, ob eine Zukunft in Deutschland überhaupt noch möglich ist.
Der 28-jährige Ingenieur Zayed beschäftigt sich intensiv mit diesen Fragen. In Siegen geboren und aufgewachsen, mit einer erfolgreichen Schullaufbahn, einem abgeschlossenen Studium und einem guten Job, hatte Zayed bisher keinen Anlass, darüber nachzudenken, Deutschland zu verlassen. „Mir ging es immer gut. Ich habe Deutschland tatsächlich als mein Zuhause und meine Heimat gesehen“, erklärt Zayed. Zwar habe er gelegentlich rassistische Erfahrungen gemacht, jedoch nie darüber nachgedacht, wie seine Zukunft in Deutschland aussehen könnte – „bis heute“. Insbesondere nach seinem Abschluss und dem neuen Job habe er die zunehmende Welle des Rassismus gespürt. „Ich habe 2021 als Maschinenbauingenieur in einem Unternehmen angefangen zu arbeiten. Im Bewerbungsgespräch wurde ich gefragt, ob ich einem arabischen Clan angehöre.“ Das habe Zayed schockiert und verunsichert. „Bis dahin habe ich Rassismus immer sehr unterschwellig wahrgenommen, aber das war sehr direkt und hat mich sehr überfordert.“
Nach dem 7. Oktober 2023 habe Zayed Angst. „Da habe ich mich das erste Mal ernsthaft gefragt, ob ich noch eine Zukunft in Deutschland haben kann.“ Zayed hat palästinensische Wurzeln und identifiziert sich stark mit dem Land. „Jeden Tag sehe ich, wie Menschen in Gaza sterben, und darf das Leid nicht ansprechen.“ Das belaste Zayed sehr. „Ich sehe eine einseitige Empathie in Deutschland. Und diese Empathie richtet sich nicht an mich.“ Die politische Landschaft spiegele leider nicht die notwendige Entschlossenheit wider, um gegen diesen alarmierenden Trend von antimuslimischem Rassismus vorzugehen. Statt einer klaren und einheitlichen Verurteilung von rassistischen Vorfällen sieht Zayed politische Entscheidungsträger, die zögerlich reagieren oder im schlimmsten Fall den Nährboden für Vorurteile schaffen. „Wenn es so weitergeht, gibt es für mich keine Sicherheit mehr in diesem Land. Und keine Sicherheit bedeutet für mich, ernsthaft darüber nachzudenken, meine Heimat schweren Herzens zu verlassen.“
Im Gegensatz zu Zayed denkt Ayla nicht daran, Deutschland zu verlassen. Die 30-jährige Deutsch-Türkin, Lehrerin in NRW, die ein Kopftuch trägt, möchte, wie sie sagt, „nicht einfach weggehen und das Land den Rechtsextremisten überlassen“. „Dafür bin ich nicht Lehrerin geworden. Was würde ich denn meinen Schülern vermitteln, wenn ich einfach weggehen würde?“ Sie versteht die Ängste der Muslime in Deutschland, besonders als sichtbare Muslima, die täglichrassistischen Anfeindungen ausgesetzt ist. „Im Kollegium, beim Einkaufen oder einfach auf einem Konzert – immer und überall bin ich mit rassistischem Hass konfrontiert“, sagt Ayla.
Nach dem 7. Oktober „wurde es so schlimm, dass ich abends mit Bauchschmerzen einschlief“, erzählt Ayla weiter. In der Schule soll der Schuldirektor sie angesprochen haben, vor allem das Thema und den Nahostkonflikt nicht zu erwähnen. „Mir war nicht bekannt, dass sonst jemand von meinen Kollegen angesprochen wurde“, so Ayla. Viele ihrer Schüler erleben ebenfalls vermehrt Rassismus, teils von Lehrern und teils von Mitschülern. „Meine Schülerinnen, die ein Kopftuch tragen, haben mir erzählt, dass sie Angst haben, in die Schule zu kommen“, sagt Ayla. „Wie soll ich in dieser Situation überhaupt ans Auswandern denken, wenn ich merke, dass ich hier gebraucht werde?“ Als Muslimin mit Rassismuserfahrung versteht sie ihre Schüler, die ebenfalls antimuslimischen Rassismus erleben.
Für Ayla ist es wichtig, für diese Schüler eine sichere, aufgeklärte und rassismussensible Zukunft aufzubauen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Als Deutsch-Türkin hat Ayla eine besondere Verbindung zu Deutschland. „Meine Großeltern waren Gastarbeiter und haben Deutschland mit aufgebaut. Sie haben ihre Heimat verlassen, damit wir eine bessere Zukunft haben. Dieses Land ist ihr Erbe an mich“, erzählt Ayla. „Dafür muss ich hier bleiben und an der Zukunft mitarbeiten, auch wenn ich weiß, dass die Zukunft in Deutschland hart werden wird. Denn ich glaube, dass wir schlimmere Zeiten erleben werden. Und daher brauchen wir sichere Räume, die nur wir aufbauen können“, schließt Ayla.
Maryam ist eine 21-jährige Muslimin aus Hessen, die eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin macht. Als 6-jähriges Kind floh sie während des Krieges in Syrien mit ihrer Familie nach Deutschland. Für sie ist Deutschland ein Land voller Möglichkeiten und Hoffnungen. „Ich habe den Krieg miterlebt und weiß, was es heißt, in Angst und Unsicherheit zu leben“, sagt Maryam. Auch sie spürt täglich den Rassismus und blickt voller Sorge in ihre Zukunft. Dennoch sieht sie Deutschland als eine große Chance für ein zufriedenes Leben, fernab von „Bomben und dem Tod“. „Ich sehe und spüre den Rassismus. Ich sehe, wie die Menschen mich hier in Deutschland ansehen. Meine dunklen Haare und meine dunkle Haut sind für Deutschland ein großes Problem“, sagt Maryam.
Dennoch hat sie Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Sie hat erlebt, wie vor allem nichtmuslimische und weiße Menschen ihr und ihrer Familie unmittelbar nach der Flucht geholfen haben. Und auch heute sieht sie viele nicht betroffene Menschen, die sich gegen Rassismus stellen und sich mit Betroffenen solidarisieren. „Ich sehe diese Menschen. Ich möchte auch, dass andere Muslime sie sehen. Ich möchte, dass wir unsere Hoffnung nicht verlieren und uns in diesen schwierigen Zeiten unterstützen“, so Maryam.
Die Gesellschaft ist gespalten, und antimuslimische Ressentiments gewinnen an Akzeptanz. Die Anzahl der Übergriffe und Diskriminierungsfälle nehmen zu, und es wird deutlich, dass dringende Maßnahmen erforderlich sind, um dieser besorgniserregenden Entwicklung Einhalt zu gebieten. Statt zu hinterfragen, warum antimuslimischer Rassismus in der Mitte der Gesellschaft zunimmt, werden Tabus errichtet und unbequeme Fragen vermieden. Es bedarf einer klaren Verurteilung auf politischer Ebene, einer kritischen Medienlandschaft, die die Realität widerspiegelt, und einer Gesellschaft, die sich entschlossen gegen Diskriminierung stellt. Andernfalls riskieren wir, dass der 7. Oktober 2023 nicht als Wendepunkt, sondern als Zeichen für eine gefährliche Entwicklung in der deutschen Gesellschaft in Erinnerung bleibt.