Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Yılmaz Gümüş über die islamische Religionspädagogik.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Yılmaz Gümüş: Ich bin in Duisburg geboren und aufgewachsen, habe die gesamte schulische Laufbahn in Duisburg absolviert und an der Universität Duisburg-Essen das Lehramtsstudium für die Sekundarstufe I und II mit den Fächern Deutsch und Pädagogik abgeschlossen.
Mein akademischer Werdegang nahm seinen Lauf mit dem Quereinstieg im Bereich der Islamischen Religionspädagogik am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Hier durfte ich in der Endphase meines Studiums als Hilfskraft an Publikationen mitwirken und erste Erfahrungen sammeln, bevor ich etwa ein halbes Jahr vor dem Beginn der grundständigen islamisch-theologischen Studiengänge nunmehr als wissenschaftlicher Mitarbeiter angefangen hatte. Nach einer Phase des forschenden Suchens habe ich dann auch mein Promotionsthema endgültig festlegen können.
Ich sehe die ersten Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni und im theologischen bzw. religionspädagogischen Bereich als eine Orientierungsphase an, in der ich auch eingeschriebener Student des Erweiterungsfachs Islamische Religionspädagogik war. Die Tätigkeit am Institut bot mir die Möglichkeit, in bestimmten wissenschaftlichen Feldern mich zu entwickeln und im Bereich der Islamischen Religionspädagogik meinen Schwerpunkt zu setzen. Neben meiner Tätigkeit an der Universität bin ich seit zwei Jahren an der Schule als Lehrer tätig und unterrichte derzeit die Fächer Islamische Religionslehre und Ethik.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Gümüş: Der Titel der Arbeit lautet: „Eine Didaktik des Herzens“ – Von der anthropologischen Einheit zur didaktischen Ganzheit in der islamischen Religionspädagogik über eine begriffsanalytische Untersuchung des Begriffs des Herzens bei al-Ġazālī im Kitāb Šarḥ ʿaǧāʾib al-qalb in seinem Werk Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn.
Die Vorstellung meines Dissertationsthemas könnte man aus unterschiedlichen Perspektiven aufgreifen, da die Arbeit unterschiedliche Dimensionen in sich eint. Im Mittelpunkt der Arbeit steht der theologisch anthropologische Begriff des Herzens. Den Ausgangspunkt stellt die Annahme dar, dass dem islamisch-theologischen Herzensbegriff im Hinblick auf den Glauben, das Erkenntnisvermögen und das ethisch-moralische Handeln des Menschen eine zentrale Stellung in der islamischen Lehre zugewiesen wird und das Herz eine elementare Bedeutung bei der Bestimmung des Wesens des Menschen hat. Ob und inwieweit diese Prämisse einen quellenbasierten Hintergrund hat, wird in einer koranexegetischen Analyse geprüft, die in einem umfassenden Kapitel nach den theologisch anthropologischen wie auch religionspädagogischen Implikationen des koranischen Herzensbegriffs ermittelt.
Ferner geht die Arbeit der Frage nach, welche ganzheitliche Qualität die Beziehung der Dimensionen des Menschen aufweist und ob man aus diesen Beziehungsverhältnissen ein religionspädagogisches Ganzheitlichkeitskonzept extrahieren und formulieren kann. Hierzu bot es sich an zu schauen, was überhaupt im schulpädagogischen Kontext unter Ganzheitlichkeit bislang verstanden wurde und ob die bestehenden Konzepte eine Grundlage für einen Vergleich und für die kontrastive Bestimmung eines islamisch-religionspädagogisches Konzepts darboten.
An die exegetische Analyse des koranischen Herzensbegriffs folgt eine kommentierte Analyse eines besonders wichtigen Kapitels des Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn; und zwar des Kitāb Šarḥ ʿaǧāʾib al-qalb. Man könnte es übersetzen mit „Die Wunder“ oder „Besonderheiten“ oder „außerordentlichen Besonderheiten des Herzens“. Interessanterweise ist dieses Kapitel fast genau in der Mitte des Gesamtwerks. Ob es ein Zufall ist oder von al-Ġazālī ganz bewusst so intendiert wurde, weiß ich nicht. Doch wenn man bedenkt, dass der arabische Begriff für Herz auf jene etymologische Wurzel zurückzuführen ist, die unter anderem auch die Bedeutung Mitte hat bzw. jene Achse hat, an der eine Umdrehung stattfinden kann, dann kann man in Zusammenhang mit diesem Kapitel durchaus vom „Herzstück“ des Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn sprechen. Die Analyse dieses Kapitels stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Da der Koran kein Buch ist, das Konzepte, Theorien, Erklärungen, Erzählungen usw. thematisch und strukturiert vollständig darbietet, war es mir wichtig ein repräsentatives, quellengestütztes Herzkonzept heranzuziehen, in dem der koranische Herzensbegriff theoretisiert wird. Darüber hinaus und mit Blick auf die Intention der Arbeit soll diese Analyse zur Bestimmung des Menschenbilds und der Art der Ganzheitlichkeit, die dem theoretisierten Herzensbegriffs implizit sind, führen, um abschließend den Rahmen bzw. die Prinzipien einer ganzheitlich orientierten Islamischen Religionspädagogik formulieren zu können.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Gümüş: Es gibt viele Passagen im Koran, die den Leser je nach Leseerfahrung und Leseerwartung überraschen können und ggf. dazu animieren, der Sache nachzugehen – entweder in der eigenen Gedankenwelt oder aber auch mit wissenschaftlicher Neugier. Wie viele andere Leser oder Zuhörer bin ich auf Aussagen aufmerksam geworden, wie z.B. der Abschnitt, in dem Ibrahim (a) Allah nach der Wiederbelebung fragt und Er darauf mit der Frage entgegnet, ob er denn nicht glaube. Ibrahim (a) antwortet hierauf mit: „Doch! Aber (ich frage) um mein Herz zu beruhigen [bzw. zu stillen].“ Oder wie der Vers „Sind sie denn nicht im Land umhergezogen, um ein Herz zu bekommen, mit dem sie verstehen, oder Ohren, mit denen sie hören? Nicht die Blicke sind blind, blind sind die Herzen im Innern.“ Es wird deutlich, dass das Herz hier in einer erweiterten Bedeutung Verwendung findet. Beim ersten Vers wird es in Verhältnis zum Zustand des Glaubens verwendet und beim zweiten zum Sehen, Deuten und Verstehen. Solche koranischen Aussagen lassen unterschiedliche Fragen aufkommen wie z.B. wie das verstanden wurde oder aber auch welche Relevanz kann dies aus religionspädagogischer Sicht heute für uns haben. Im Zuge dessen festzustellen, dass in einem solchen Werk wie dem Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn eine Abhandlung enthalten ist, in der das Herz als ein zentrales Menschenbildkonzept der islamischen Lehre theoretisiert wird, hat meine Neugier auf diesen Text gerichtet.
Ich wollte allem voran ein Thema aufgreifen, das von grundlegender Art ist, da meiner Meinung nach hierzu wenig geforscht und produziert wurde und wird. Ferner war es mir auch wichtig, historische Bildungsforschung zu betreiben, da hierin auch die Chance liegt, bei der Etablierung eines Paradigmas sich in Beziehung zu setzen; und zwar zum Vorherigen wie auch zu Gegenwärtigen. Islam ist, wie alle monotheistischen Religionen, eine Gedächtnisreligion. Im islamischen Kontext bedeutet dies, dass man sich unter anderem der Literalität bedient und immer wieder von Neuem mit der Literatur in Beziehung tritt. Historische Bildungsforschung ist gerade im Hinblick auf die Religionspädagogik eine Chance, einerseits mit der klassischen Literatur in Beziehung zu treten und andererseits durch kritische Auseinandersetzung das Wesen und das Wesentliche herauszuarbeiten und entsprechend der gegebenen Bedingungen das Adaptationspotential zu erfragen oder aber auch das Gegenwärtige prüfend zu begutachten.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht?
Gümüş: Neben den intendierten Zielerkenntnissen gab es viele inspirierende Teilerkenntnisse in den jeweiligen Kapiteln der Arbeit, die ich als positive Erfahrungen einstufen kann. Die exegetische Arbeit mit bestimmten Koranabschnitten mit ethisch-moralischer Intentionalität, die metaphorischen oder aber auch narrativen Charakter haben, zählen ebenfalls dazu. Es gibt ein recht überschaubares Werk im Türkischen zu al-Ġazālī, dessen Titel mit „Konservativ und Modern“ übersetzt werden kann. In der von mir analysierten Abhandlung trifft man auf einen al-Ġazālī, der diesem Titel durchaus gerecht wird. Es gibt Abschnitte, in denen mein Staunen in die Worte „Das hat er vor etwa 900 Jahren geschrieben?“ eingeflossen sind oder ich enttäuscht war, dass er einen bestimmten Gedankengang nicht fortgesetzt und somit für den heutigen Kontext verwertbar gemacht hat.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Gümüş: Ich hoffe, dass sie bei der Etablierung eines islamisch religionspädagogischen Paradigmas im Hier und Jetzt und somit bei der Bestimmung der Disziplin-Identität der Islamischen Religionspädagogik einen Beitrag leisten kann. Ferner hoffe ich, dass sie das Potential neben der theoretischen auch zur weiteren praktischen Auseinandersetzung mit Blick auf die religionspädagogische Praxis darbietet.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.