Vier Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau sind die Trauer und Verzweiflung der Familienangehörigen enorm. Elif Zehra Kandemir nahm an der diesjährigen Gedenkveranstaltung teil. Eine Reportage.
Am Eingang des Friedhofs in Dietzenbach, 22 Kilometer von der Stadt Hanau entfernt, steigt eine alte Frau in weißem Kopftuch und bedrucktem Rock aus einem Auto und klammert sich an ihre Krücken. Ein Mann mittleren Alters neben ihr – wahrscheinlich ihr Sohn – sagt sanft: „Nicht weinen“. Dann noch einmal mit einer etwas härteren Stimme: „OK, Mama, weine nicht mehr!“. Die Frau singt ein leises Trauerlied.
Langsam gehen wir mit der alten Frau zum Grab von Sedat Gürbüz und erfahren, dass sie die Großmutter von ihm ist.
Vor vier Jahren tötete ein rechtsextremer Terrorist bei einem bewaffneten Angriff in Hanau neun Menschen. Nach dem Anschlag haben die Familien der Opfer in Hanau, Dietzenbach, Offenbach, Ağrı und Çorum ein Stück ihres Herzens mit ins Grab gesetzt. Seit dem 19. Februar 2020 sind vielleicht alle Parolen gerufen worden, die man hätte rufen können, aber die Stimmen der Familien sind bis heute nicht zu hören. Die Trauer, die sie tragen, hat noch immer das Gewicht wie an Tag eins.
Gerade wegen dieser „Unhörbarkeit“ nahm Innenministerin Nancy Faeser nicht an der Gedenkfeier auf dem Hanauer Zentralfriedhof teil, sondern legte in aller Stille einen Kranz vor dem 200 Meter entfernten Trauerhalle nieder. Weil die Angehörigen der Opfer nicht wollten, dass die Innenministerin oder andere Politiker an den Gräbern ihrer Kinder Reden halten. So konnten die „Protokollanten“ in diesem Jahr nur an einem anderen Ort in der Nähe der Gräber an der Feier teilnehmen.
Diese gerechtfertigte Empörung hängt auch damit zusammen, dass die Politiker viel über den rassistischen Anschlag in Hanau reden, aber keinen starken Willen zeigen, die vielen Skandale, insbesondere den institutionellen Rassismus, aufzuklären. So hat die Trauer der Familien in Hanau noch keine Ruhe gefunden. Die Wut der Familien fliegt umher wie Pfeile, die ihre Ziele verfehlen.
Nach der Zeremonie auf dem Dietzenbacher Friedhof schreit Emiş Gürbüz laut über das Unrecht. Ihre Halsschlagadern werden deutlich sichtbar. Sie schreit: „Dieser Mörder wurde mit meinen Steuergeldern gefüttert. 40 Jahre derselbe Rassismus! Sind wir keine Menschen? Warum wollen diese Leute uns nicht? Was haben wir ihnen angetan?“
Der 642-seitige Bericht des Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags zu dem Anschlag in Hanau enthält eine Entschuldigung für die am 19. Februar begangenen Fehler. Der Bericht räumt ein, dass die Morde zu verhindern gewesen wären, wenn die zuständigen Behörden zum Zeitpunkt des Anschlags und danach anders gehandelt hätten. Bislang hat jedoch noch kein Beamter die Verantwortung für die Geschehnisse übernommen. Dies schürt die Wut von Emiş Gürbüz weiter und sie lehnt hohle Entschuldigungen ab: „Entschuldige dich nicht bei mir! Du musst mein Kind schützen! Wenn du nicht alle Menschen, die hier leben, schützen kannst – warum bist du dann in dieser Position?“
Ähnlich äußert sich auch Armin Kurtović, der Vater des verstorbenen Hamza Kurtović, auf dem Friedhof in Hanau: „Blumen zu den Gräbern zu bringen und sich zu entschuldigen, ohne etwas zu ändern, ist nichts anderes als Manipulation!“
Für viele der Familien ist die Trauer wie ein Kleid, das sie immer wieder ablegen, weil sie gezwungen sind, angesichts der schrecklichen Verluste, die sie erlitten haben, zu Kämpfern für Gerechtigkeit zu werden. Sie sind stark, wenn sie an den Gräbern ihrer Kinder stehen, Gerechtigkeit für ihre Angehörigen fordern und Sicherheit verlangen, damit sich ein solches Leid in diesem Land nicht wiederholt. Die Trauerkleidung aber, die sie tragen, wenn sie allein sind, ist voller Stacheln.
Am 19. Februar beschreibt Hüsna Gültekin, die Mutter des verstorbenen Gökhan Gültekin, diese Trauer wie folgt: „Mein Haus ist voll mit Fotos von meinem Gökhan. Ich spreche den ganzen Tag mit ihm. Mein Gökhan hat das Leben seiner Mutter verpackt und in den Bergen Ararat zurückgelassen. In Ağrı liegt der junge Körper meines Sohnes im Grab, unter zwei Metern Schnee. Er hat nichts zurückgelassen. Diese Wunde in mir hört nicht auf zu bluten. Seit 4 Jahren weiß ich nicht, wie ich lächeln soll. Möge Allah keinem dieses Leid geben. Einen Sohn zu verlieren ist weder wie eine Mutter noch wie einen Bruder zu verlieren …“.
Seda Başay-Yıldız, die Anwältin der Familie Gültekin, war ebenfalls bei der Gedenkfeier auf dem Dietzenbacher Friedhof. „Als Mutter kann ich mit den Familien in Hanau empathieren“, sagt sie uns. „Ich werde mein Kind umarmen können, wenn ich abends nach Hause komme, aber egal, was sie tun, nichts wird ihr Kind zurückbringen. Offen gesagt, glaube ich nicht, dass Deutschland nach dem NSU und allem, was vorgefallen ist, irgendwelche Lehren gezogen hat.“
Lehren aus Hanau zu ziehen, ist ein Ideal, an das in Deutschland niemand wirklich glaubt. Vor allem nicht angesichts der Pläne der rechtsextremen AfD-Partei zur „Re-Migration“, die im letzten Monat bekannt wurden. Emiş Gürbüz erinnert sich an diese Pläne und wird noch wütender: „Jetzt planen sie die Abschiebung von Ausländern in Deutschland. Dieses Land schuldet mir ein Leben, es schuldet mir mein Kind! Dieses Land soll erst einmal diese Schuld begleichen“, fügt sie nach einem für sie ebenfalls ungewöhnlichen Moment der Entfremdung von dieser Wut hinzu: „Früher kam ganz Dietzenbach zu mir, um zu lachen, sie sagten: ‚Emiş, erzähl uns etwas, damit wir lachen können. Jetzt will ich niemanden mehr in meiner Nähe haben!“ Die Tatsache, dass Menschen, die ihre Kinder und geliebten Menschen verloren haben, für Gerechtigkeit kämpfen müssen, ist wie ein Warnsignal, dem niemand Beachtung schenkt.
Die Trauer ist nicht nur für die Menschen sichtbar, die einen geliebten Menschen verloren haben. Jede Straße und fast jedes Haus in Hanau trägt die Spuren des Anschlags vom 19. Februar. Wir sprechen mit Zeynep Ayan, 18 Jahre alt, die in Hanau geboren und aufgewachsen ist, über die Folgen des Anschlags. „Der 19. Februar legte sich wie eine dunkle Wolke über die Stadt. Der Anschlag hat eine unsichtbare Narbe in den Herzen der Menschen hinterlassen. Die einst lebendigen Straßen von Hanau haben sich in Orte der Trauer und des Gedenkens verwandelt“, sagt Ayan, der an dem Theaterstück „A.N.D.ers“ der Hanauer Theatergruppe „Hola“ teilgenommen hat. Das Stück ist eine theatralische Reaktion auf die Anschläge in Hanau.
„Unser Ziel war es, die Menschen zum Nachdenken anzuregen und sich mit Rassismus im Alltag auseinanderzusetzen“, sagt Ayan und fügt hinzu, dass die Stücke in Berlin und Hanau aufgeführt wurden: „Hanau ist nicht nur ein Ort der Trauer und des Schmerzes. Es ist auch ein Ort der Hoffnung, dass aus dieser Dunkelheit ein Licht kommen kann.“ Es bleibt zu hoffen, dass diese Hoffnung der 18-jährigen Zeynep in ganz Deutschland gehört wird.