In Deutschland leben mehr als fünf Millionen Muslime. Wie viele kennen Sie? Wir stellen querbeet Menschen vor, die eine Gemeinsamkeit teilen: Sie sind Teil der Umma. Heute Houyem Hachemi.
Houyem Hachemi ist Kinderärztin im Ruhrgebiet. Nach ihrem Medizinstudium hat sie mitunter als Oberärztin in einer Kinderklinik gearbeitet und anschließend ihre eigene Praxis in Duisburg eröffnet. Ihre Praxis basiert auf einem Konzept der kultursensiblen Medizin. In ihrer Freizeit bloggt sie zu Themen aus ihrem Berufsalltag und zu medizinischen und pädagogischen Themen.
Dr. Houyem Hachemi: Ich habe als Kind oder Jugendlicher festgestellt, dass ich es schön finde, Dinge ganz machen zu können. Ich empfand es als spannend, Dinge wieder heil zu machen und habe dabei eher an etwas wie KFZ-Mechanik gedacht – da kann man auch reparieren und aufräumen. Als Kind hatte ich den Arztberuf immer alten Männern mit grauen Haaren zugeordnet. Wenn man mit der Fernsehserie Schwarzwaldklinik groß geworden ist, hat man immer nur den alten grauen Chefarzt gesehen und das Gefühl gehabt, Ärzte sind alt und grau – ein ganz komisches Bild wurde uns vermittelt.
Mit 17 Jahren hatte ich dann einen Schlüsselmoment. Mein kleiner Bruder war stationär in der Kinderklinik und wir durften ihn abholen kommen. Ich habe junge Ärzte gesehen, die Visite gemacht haben. Es war so bunt und so fröhlich dort. Ich hatte das Gefühl, die haben etwas Gutes getan. In dem Moment dachte ich mir, man muss gar nicht alt werden, um Kinderarzt zu sein. Vielleicht kann ich das machen. So habe ich mich dazu entschieden, es zu versuchen.
Hachemi: Schon. Doch im Vergleich zu heute, hatte ich einen relativ leichten Weg. Ich hatte den Luxus, direkt einen Studienplatz zu bekommen, weil es damals ein anderes Auswahlverfahren gab als heute. Zudem hatte ich eine Universität in der Nähe – ich musste nicht groß umziehen. Und bin dann auch recht schnell in den Beruf eingestiegen.
Hachemi: Wir möchten, dass die Kinder beim Besuch der Praxis eine kleine Weltreise durchmachen. Alles beginnt bereits an der Anmeldung, die einem Check-in wie an einem Flughafen ähnelt. Dieser hat auch eine Kofferwaage oder ein Kofferband. Im Anschluss gehen die Kinder die Rampe hoch und können sich anmelden und für das Flugzeug (Wartezimmer) einchecken. Jeder Behandlungsraum ist ein Kontinent. Der Flur heißt Europa, weil wir über Europa zu anderen Kontinenten fliegen. Unsere Behandlungsräume heißen Afrika, Asien, Amerika und Australien. Diese sind dann so gestaltet, dass sie den Kindern die Pflanzen und Tiere der jeweiligen Kontinente näherbringen. Das Ziel besteht darin, die Vielfalt dieser Welt darzustellen.
In unserer Praxis stellen wir die Vielfalt der Kinder dar. Mir ist wichtig, dass sich jedes Kind hier auch willkommen fühlt, weil wir auch sehr multikulturelle Patientenklientel haben.
Hachemi: Worüber ich mir gar keine Gedanken gemacht hatte, war: Wir haben die Praxis zu Zeiten des ersten Lockdowns gegründet. Zu der Zeit hat den Kindern neuer Input gefehlt. Es gab eine Generation Kinder, die nicht mehr in die Indoorspielplätze, in die Kinos oder in den Kindergarten durften. Das ganze Kindsein mussten sie ablegen. Und plötzlich war da eine Kinderarztpraxis. Die ersten Mütter sagten, dass die Kinder denken, sie kämen zum Kindergarten. Und Sie dachten, ich wäre die Erzieherin. Unser Konzept wurde von den Eltern und auch von den Kindern extrem positiv angenommen. So entstand ein sehr vertrauensvolles Verhältnis mit den Kindern.
Hachemi: Weil Kultur uns mehr prägt und unser Sein bestimmt, als jedem von uns bewusst. Es gibt niemanden, der keine Kultur hat. Die Frage ist nur, welche. Unsere Kultur wird immer dann besonders wichtig, wenn es uns gut oder schlecht geht. Bei positiven Ereignissen wie Geburten, Hochzeiten und Feiern ist die Kultur für uns ein wichtiger Faktor. Noch kultureller sind wir aber, wenn es um Krankheit und Tod geht. Und dann benötigen wir einen Leitfaden, der uns Sicherheit gibt.
Daher ist Kultursensibilität in der Pflege und Medizin von großer Bedeutung. Man kann sich natürlich hinstellen und sagen, dass darfst du nicht. Wenn man aber in die Kultursensibilität geht und dann sagt: „Ich weiß, bei Ihnen ist es so, aber wissen Sie, das passiert dann“ und geht auf Augenhöhe. Dann kann man den Leuten vermitteln, was vielleicht besser gemacht werden kann. Und die Leute fühlen sich verstanden, weil nicht der mahnende Finger oben ist und sagt: Du darfst das nicht. Sondern es wird erklärt, warum. Daher würde ich mir wünschen, dass in der medizinischen Ausbildung auch ein spezielles Fach zum Thema Kultursensibilität angeboten wird.
Hachemi: Ich hoffe gut. In der Regel hört man nur das Gute, Negatives wird selten direkt angesprochen. Wir hatten in den vergangenen Jahren einen enormen Andrang, der uns schier überfüllte. Wir haben lange gebraucht, um die Zeitplanung zu verbessern. Dennoch kann Kritik hilfreich sein, um unsere Arbeit zu verbessern. Egal, ob von klein oder groß. Eine kleine Patientin beschwerte sich, dass sie unsere Patiententoilette nicht alleine nutzen konnte. Nun steht dort ein kleiner Hocker.
Hachemi: Sehr wechselhaft. Die Freizeit ist für uns Ärzte immer ein Thema, das schwierig zu gestalten ist. Ich unternehme gerne was mit Freunden oder mit der Familie. Zudem habe ich Instagram als Hobby entdeckt. Wenn ich etwas auf der Seele habe und mich ein Thema beschäftigt, dann teile ich es auf Instagram. Ich nutze es wie ein Tagebuch. Das mache ich sehr gerne. Ansonsten bin ich auch im Privaten viel mit Kindern beschäftigt. So verbringen wir auch zu Hause die Zeit damit, Kindern eine Freude zu bereiten.
Hachemi: Das Buch „Tausend strahlende Sonnen“ finde ich wunderschön. Ich bin jemand, der gerne ein Buch liest oder einen Film schaut, der mich am Ende überrascht. Daher habe ich auch nicht den einen Film. Es gibt so viele Filme, die ich sehr gerne schaue, oft auch alte Filme.
Hachemi: Familie bedeutet für mich einfach die ganze Welt. Sie ist mein Rückhalt und mein Schutzschild.
Hachemi: Es gibt so viele schöne Momente. Immer dann, wenn ein Kind etwas Besonderes schafft, ist es für mich ein besonderer Moment. Da fällt mir ein Kind aus meiner Praxis auf: Die Mutter hatte das Gefühl, dass ihr Sohn eine Entwicklungsverzögerung hatte. Sie hatten viele Sorgen erlebt, doch am Ende fielen die ersten Schritte. Als das Kind mir dann nach langer Zeit entgegenlief, kamen mir die Tränen. Auch Kinder, die zeitweise im Koma liegen und plötzlich aufwachen, führen zu solchen Momenten. Dies sind Momente, die man nicht mehr vergisst.
Hachemi: Laut, vielleicht hektisch, lustig und tollpatschig. Ich sage immer, ich bin sehr tollpatschig in meinem eigenen Alltag. Doch sobald es um die Arbeit geht, bin ich ein anderer Mensch.
Hachemi: Ja. Nichts im Leben passiert ohne Grund. Das ist etwas, was ich immer wieder sehe in meinem Leben. Man steht oft im Leben an einem Punkt und fragt einfach, warum? Und Jahre oder Momente später merkt man, es hatte einen Grund.
Hachemi: Mein größtes Ziel ist es, am Ende meines Lebens mit allem im Reinen zu sein. Vor allem möchte ich am Ende meines Lebens voller Stolz zurückblicken. Deshalb versuche ich jeden Tag dazu beizutragen.
Hachemi: Zunächst ganz viel Gesundheit, sowohl körperliche als auch mentale und psychische Gesundheit für alle. Wir müssen einander die Freiräume geben, die wir benötigen, um uns selbst und auch miteinander gesund zu leben. Ich habe nämlich das Gefühl, dass der Fokus für ein harmonisches Miteinander verloren gegangen ist.
Wir Muslime haben uns in den vergangenen Jahren eine große Lobby erarbeitet, was ich hervorragend finde. Ich habe als Kind nicht erklären können, warum ich an Ramadan faste. Und jetzt sind wir an einem Punkt, wo nichtmuslimische Patienten kommen und einem einen schönen Ramadan und ein schönes Ramadanfest wünschen. Das ist so ein schönes Gefühl.
Das Interview führte Kübra Zorlu.