Die Gender-Debatte stellt ein schwieriges Thema für viele religiöse Gemeinschaften dar. Doch wie können Muslime sich damit konstruktiv auseinandersetzen? Ein Interview mit Dr. Ayşe Almıla Akca.
IslamiQ: Die Geschlechterdebatte ist eine unangenehme Diskussion für die muslimische Gemeinschaft. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass die muslimische Gemeinschaft dieser Debatte aus dem Weg geht?
Dr. Ayşe Almıla Akca: Tatsächlich sind gesellschaftliche Debatten über Geschlechterfragen nicht nur für die muslimische Gemeinschaft unangenehm, sondern für viele Teile der Gesellschaft. Solche unbequemen Diskussionen werden von den Menschen verdrängt. Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass wir nicht über das Geschlecht sprechen wollen, sondern vielmehr daran, dass uns diese Diskussion unangenehm ist.
Nehmen wir ein Beispiel: Vor 30 Jahren war es für Frauen schwierig, einen Platz zum Beten (außer zum Tarâwîh-Gebet), in den Moscheen zu finden, da die Gebetsräume nicht für Frauen eingerichtet wurden, sondern in der Regel von Männern für Männer. Wenn wir als Frauen in die Moscheen gingen und uns dort organisieren wollten, störte das einige Leute. Denn ein Bereich, der bisher für die Bedürfnisse von Männern errichtet worden war, musste für Frauen umgestaltet werden, z. B. ein separater Eingang, eine separate Tür, Waschplätze, Vorhänge, ein Raum, eine angestellte Lehrerin, und dafür mussten finanzielle Mittel geschaffen werden.
Daher ist das, was wir als „Gender-Debatte“ bezeichnen, eigentlich eine Diskussion über die Neustrukturierung von Räumen für Frauen und Männer in der Gesellschaft, die die jeweiligen Bedürfnisse ernst nimmt und entsprechend gestaltet. Über diese „etablierte Ordnung“ kritisch zu sprechen, kann bei vielen Menschen zu Unbehagen führen. „Wozu, ich fühle mich doch wohl! Warum soll sich was verändern“, kann sogar zu Ignoranz führen. Als muslimische Gemeinschaft müssen wir uns jedoch mit diesen Fragen auseinandersetzen und sogar die Führung übernehmen. Anstelle einer apologetischen Haltung und eines Reflexes wie „Das hat nichts mit uns zu tun, wir kümmern uns um die Frauen“, müssen wir uns mit diesen Diskussionen konstruktiv auseinandersetzen und sie selbstbewusst führen.
IslamiQ: Wie beobachten Sie die Beteiligung der muslimischen Gemeinschaft an der aktuellen „Gender“-Debatte? Glauben Sie, dass die muslimische Gemeinschaft eine proaktive Haltung gegenüber Weiblichkeit, Männlichkeit und Geschlechterrollen entwickeln kann?
Akca: Zunächst einmal müssen wir klären, ob die Geschlechterstereotype, die unserem Denken und Verhalten zugrunde liegen, etwas sind, das sich seit Jahrhunderten entwickelt hat, oder ob sie tatsächlich das Ergebnis der Moderne sind. Waren die Dinge, von denen wir heute sagen: „Das ist die Rolle der Frau und das ist die Rolle des Mannes“, wirklich so vor 500 Jahren? War es vor 1000 Jahren so? War es sogar zur Zeit unseres Propheten so? Oder lesen wir die Vergangenheit mit den Augen von heute? Ich denke, dass wir in jedem Jahrhundert, sogar in jedem Jahrzehnt der letzten Zeit, einen Diskurs über Geschlechterrollen konstruieren, indem wir auf das zurückgehen, was jetzt wahr ist und sagen: „So war es in der Zeit des Propheten (s)“, und wir schreiben Männern und Frauen bestimmte soziale Rollen zu.
Als ich meiner Tochter über das Leben von Adam (a) und Havva (a) erzählen wollte, stieß ich auf ein älteres Buch. In dem Buch wurde Adam (a) als Mann dargestellt, der mit seinen Söhnen außer Haus war und sich um die Versorgung des Hauses kümmerte, und unsere Mutter Havva (a) wurde als Frau dargestellt, die die Hausarbeit erledigte und sich um die Kinder kümmerte. Das ist genau das bürgerliche Leben der Kernfamilie wie es seit zwei Jahrhunderten zum Modell geworden ist! Meiner Großmutter zum Beispiel wurde ein solches Leben vorenthalten. Sie war eine Dorffrau und es war ihr nicht möglich, nur Hausarbeit zu machen. Bevor wir das Wirtschaftsmodell, in dem der Mann Geld verdient und die Frau zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, als „islamisch“ bezeichnen, sollten wir uns fragen, inwiefern dieses Model beispielsweise auf dem Koran beruht, ob es sich über Jahrhunderte erst entwickelt hat, und inwiefern dies dann als islamisch gelten kann oder nicht.
Wenn sich die muslimische Gemeinschaft an der Debatte über Geschlechterrollen beteiligt, beobachte ich Folgendes: Einerseits gibt es eine Gruppe, die zu beweisen versucht, dass der Islam keine stereotypen Geschlechterrollen vorschreibt, indem sie Beispiele aus der Offenbarung und der islamischen Geschichte gegen die Entwicklung der Dichotomie zwischen Männern und Frauen in Europa anführt. Da wird beispielsweise argumentiert, dass es das „bei uns nie gegeben habe“, dass „in unserer Religion der Mann die Hülle der Frau und die Frau die Hülle des Mannes“ sei. Oder dass „sie keine Feinde sind, sondern sich gegenseitig unterstützen“ usw. Andererseits wird die Dominanz der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur als natürlich muslimische Ordnung angesehen. Wir müssen aber auch erkennen, dass die weitverbreitete und starre Rollenunterscheidung zwischen Männern und Frauen in vielen Gesellschaften heute zusammen mit Kolonialismus und Imperialismus entwickelt, fortgeschrieben und durch diese Geschichte verstärkt wurde.
Muslimische Theologen in der Geschichte waren in der Lage, Geschlecht und Geschlechterrollen in einer sehr transparenten Weise zu diskutieren. In der Tradition der islamischen Philosophie und des islamischen Denkens sehen wir, dass selbst Themen, die heute als „umstritten“ gelten, ohne Schwierigkeiten diskutiert werden konnten. Heute jedoch scheint es, als ob die Gender-Debatte als „letzte Festung des Islams“ angesehen wird. Innerhalb der muslimischen Gemeinschaft herrscht die Auffassung vor, dass wir nichts mehr haben, wenn wir die bestehenden Stereotype oder traditionellen Vorstellungen über die Geschlechter aufgeben. Diese Situation schränkt das Diskussionsfeld in der muslimischen Gemeinschaft auf den sexuellen Kontext ein. Natürlich ist es wichtig, dass wir uns mit dem Stellenwert sexueller Orientierungen im Islam beschäftigen. Dabei geht es mir um die Entwicklung eines konstruktiveren Diskurses und nicht um die Ausgrenzung von Menschen aus der Religion und der Gemeinschaft.
IslamiQ: Was können Sie über das Verhältnis der muslimischen Gemeinschaft zum Patriarchat sagen?
Akca: Das Patriarchat ist nichts Neues, es ist ein System, das die ganze Welt seit Jahrtausenden durchdringt. Innerhalb dieses Systems haben sich natürlich auch in den muslimischen Gemeinschaften sexistische und somit geschlechterungerechte Haltungen etabliert. Wir befinden uns als muslimische Gemeinschaft derzeit in einer Situation, in der wir versuchen, diesen Sexismus durch einen anderen Sexismus zu zerstören. Unter den Geschlechterrollen, die den Frauen in der Vergangenheit zugewiesen wurden, gibt es etwa eine Form wie „die Frau ist barmherzig“. Die typische Frauenrolle von heute versucht dies zu überwinden, um den Raum für die Frau zu erweitern, greift dabei auf das Bild einer Frau zurück, die alles kann und alles organisiert. Wieder ein sexistischer Ansatz! Die Form ist dieselbe, aber der Inhalt ist ein anderer.
Andererseits spielt das Geschlecht im Bereich des islamischen Rechts etwa eine notwendige Rolle. Wie Sie sehen, wird im Gebetsmanual zunächst erörtert, wie unterschiedlich Männer und Frauen das Gebet verrichten. In vielen muslimischen Gesellschaften in der Geschichte gab es auch Menschen, die sich beispielsweise weder als Mann noch als Frau verstanden, oder die sich nicht mit dem ihnen zugewiesenen „biologischen“ Geschlecht im Einklang sahen. In der islamischen Rechtsprechung konnten diese Menschen einen eigenen Rechtsstatus haben. Daher können wir sagen, dass die Bestimmungen über die Geschlechter in der islamischen Tradition unter Berücksichtigung der Bedingungen der jeweiligen Zeit entstanden sind und damit eben keine natürliche Ordnung repräsentieren.
Der Vorwurf, der heute von westlichen Gesellschaften gegen muslimische Gemeinschaften erhoben wird, sie hätten „keine liberale Einstellung“ zu Geschlechterrollen oder sexuellen Identitäten, beruht zudem auf ideengeschichtlichen Konzepten, die vornehmlich im Westen konstruiert und aufgebaut wurden. Vom Westen aus haben sich diese Konzepte auch in muslimischen Gesellschaften verbreitet, in dem wir sie an unsere eigene patriarchalische Tradition angepasst haben. Als muslimische Gemeinschaften müssen wir uns mit unserer eigenen Geschichte der Toleranz auseinandersetzen und gleichzeitig die patriarchalischen Diskurse unserer Tradition infrage stellen, anstatt eine konservative Leitidee von Geschlechterverhältnissen als original islamische zu konstruieren.
IslamiQ: Bedeutet „Toleranz“, insbesondere in Bezug auf sexuelle Identitäten, nicht in gewisser Weise eine Gleichgültigkeit gegenüber den Elementen der muslimischen Gemeinschaft?
Akca: In diesem Zusammenhang denke ich, dass wir als muslimische Gemeinschaften in den europäischen Gesellschaften immer noch eine Einwanderermentalität haben. Wir tun uns schwer damit, uns als integralen Teil dieser Gesellschaft zu sehen. Diese Situation bringt die Unfähigkeit mit sich, Diskussionen über viele Themen selbstbewusst und nach den Regeln des gesellschaftlichen Diskurses zu führen. Die muslimische Gemeinschaft wird gesellschaftlich ausgegrenzt und an den Rand gedrängt und bleibt daher in einer defensiven Position.
In vielen Studien zu diesem Thema wird hervorgehoben, dass Diskussionen über Geschlechterrollen und sexuelle Identität zu einer erneuten Marginalisierung der muslimischen Gemeinschaft führen, indem gesagt wird: „Ihr seid nicht tolerant“, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass Muslime im Allgemeinen nicht liberal sind oder sein können. Unter diesen Umständen ist es sehr schwierig, am Diskurs teilzunehmen. In allen westlichen Gesellschaften reichen die Diskussionen über Muslime vom Kopftuch muslimischer Frauen über ihre angenommene Unterdrückung bis zum angenommenen „Machismo“ muslimischer Männer. Seit dem letzten Jahrzehnt sind Debatten über die sexuelle Orientierung und die sexuelle Identität hinzugekommen.
In einem solchen Kontext wird jede Anschuldigung in Bezug auf das Geschlecht, insbesondere seitens der Mehrheitsgesellschaft, als Angriff auf uns oder bestenfalls als Teil eines geplanten Komplotts zur Untergrabung unserer sittlichen Moral wahrgenommen. Erinnern Sie sich an die Spiele der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Auch dort standen die LGBTQ-Rechte im Mittelpunkt der Debatte. Doch die Menschenrechte sind in dem Land sowieso völlig eingeschränkt. Beispielsweise ist die Situation von Wanderarbeitern katastrophal. Hierzulande stand jedoch die Debatte über die sexuelle Orientierung auf der Tagesordnung. Diese Debatten zeigen, dass es nicht um Ressourcen oder Werte an sich geht. Stattdessen sehen wir einen Wettlauf um Macht und Hierarchie. Daher gibt es gerade auch unter muslimischen Jugendlichen eine Situation wie „“Ihr“ akzeptiert uns nicht mit unserem Kopftuch, dann akzeptieren wir „euer“ LGBTQ nicht“. Und natürlich die Anschuldigung auch andersherum: „Solange „ihr“ LGBTQ nicht akzeptiert, ist „euer“ Kopftuch auch nicht akzeptabel für uns“. Das ist leider eine völlig an den Bedürfnissen aller Menschen vorbeigehende Haltung und unterstützt nur die fehlgeleitete Einteilung der Gesellschaft in „wir“ und „ihr“. Ich denke, dass ein Diskurs, der sich auf die Menschlichkeit und Inklusion aller Menschen konzentriert, zu einer selbstbewussten Debatte und Rolle in der Öffentlichkeit führen wird.
IslamiQ: Aber gibt es keinen „islamischen Kompass“ in Bezug auf die Geschlechter, insbesondere die Geschlechterrollen?
Akca: Die Bezüge, die wir als „islamisch“ herstellen, sind das Resultat komplexer kultureller und theologischer Entwicklungen. Ich möchte ein Beispiel aus meiner Forschung bringen, das dies illustriert: Bei einem Treffen für Frauen in einer Moschee sagte eine Predigerin in ihrem Vortrag: „Im Islam arbeiten die Frauen nicht. Der Mann arbeitet und erfüllt die Bedürfnisse der Frau.“ Sie nahm hier offensichtlich Bezug auf vormoderne islamrechtliche Bestimmungen zur Versorgung in Familien. Daraufhin wandte eine der Frauen, die dem Gespräch zuhörten, gegenüber der Rednerin ein: „Aber, du arbeitest doch auch gerade.“ Daraufhin erwiderte die Predigerin: „Aber mein Bereich ist ein pädagogischer. Wenn eine Frau arbeitet, sollte sie in der Pädagogik arbeiten. Andere Aufgaben sind für Frauen nicht geeignet.“ Das ist ein sexistischer Ansatz!
Die Diskussion war damit aber noch nicht zu Ende. Dieses Mal brachten die Teilnehmerinnen das Beispiel unserer Mutter Hadîdscha an und erwähnten, dass ihr eine Karawane gehörte und sie im Handel tätig war. Alle Frauen in diesem Gespräch waren nach Deutschland gekommen, um als „Gastarbeiterinnen“ zu arbeiten. Das Konzept „Frauen arbeiten nicht im Islam“ ignoriert das gesamte Leben dieser Frauen und damit ihre Identität und ihre Lebensleistung. Zudem weist es den dazugehörenden Ehemännern ebenfalls eine minderwertige Rolle zu, da sie sich ja die Versorgerrolle geteilt hatten.
In diesem Beispiel ist die von der Rednerin vertretene Linie „islamisch“, und die Argumente der Frauen, die ihr widersprechen, sind ebenfalls „islamisch“. Wenn wir also über islamische Bezüge sprechen, ist es wichtig zu erkennen, dass diese Bezüge nicht immer nur in eine Richtung führen. In Berlin verfügten 1998 etwa 60 Prozent der Moscheen über Frauenräume. Im Jahr 2016 waren es bereits 80 Prozent. Heute kann ein theologisch ausgebildeter Imam den Platz der Frauen in der Moschee nicht mehr einschränken. Wenn wir in diesem Bereich keine Fortschritte machen, liegt das an Menschen, die nicht viel Zeit in Führungspositionen verbracht oder keine Erfahrung mit einer anderen Gemeinschaft gemacht haben.
Obwohl es Fortschritte gegeben hat, haben wir noch einen langen Weg vor uns, was die Vertretung von Frauen in vielen unserer Moscheen angeht. Zur Zeit des Propheten (s) wurden die Predigten für Männer und Frauen am gleichen Ort gehalten. Heute organisieren Frauen große Veranstaltungen in den Moscheen. Ferner ist die Zahl der Frauen in der religiösen Erziehung und Ausbildung recht hoch. Aber wir sehen keine Frauen auf der Bühne. Es ist notwendig, diese rechtschaffenen Taten der Frauen aufzuzeigen und ihre Verdienste für die Gesellschaft sichtbar zu machen.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.