Muslime widmen sich den Geistesgrößen, die das Abendland prägten. Einer davon ist Johann Wolfgang Goethe. Ahmet Aydın stellt den deutschen Dichter und Denker vor und zeigt Lehren auf, die Muslime aus seinem Wirken ziehen können.
Das Leben des Mannes, der zum ersten deutschen Star am europäischen Himmel werden sollte, begann in guten Verhältnissen. Sein Vater war nicht arm, seine Mutter redselig, er hatte eine Schwester, die von ihrem Bruder zu lernen nicht abgeneigt war. Bereits in jungen Jahren, noch in Frankfurt am Main, seiner Geburtsstadt, standen Frauen Schlange, um mit ihm sprechen zu dürfen. 1749 wurde er geboren, 1832 ist er gestorben. Menschen schrieben sich Worte Goethes auf, die sie von ihm hörten. Wir können sie heute in Büchern nachlesen. „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ von Eckermann ist das bekannteste dieser Art. Haare von Goethe wurden zu Lebzeiten bereits ehrfürchtig gesammelt und aufbewahrt.
Nicht bloß die Werke, die Goethe selbst hervorgebracht hat, brachten ihm dieses Ansehen ein. Es war auch sein Charakter; die Art, wie er auf andere wirkte, die Art, wie er selbst auf die Welt und das Leben blickte und es anderen mitteilte. Mit seinem gesprochenen Wort und hinterlassenen Werk hat Goethe sich in die Geschichte der Deutschen geschrieben.
Um ein Beispiel zu nennen: Alexander von Humboldt wird aus europäischer Sicht als zweiter Entdecker Amerikas bezeichnet, weil er den „neuen“ Kontinent biologisch erschlossen hat. Die Augen, um die Natur betrachten zu können, so sagt er es selbst, habe ihm Goethe gegeben. [aus: Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur] Die Zeit, in der große Geister um 1800 in Weimar und Jena wirkten, wurde und wird nicht ohne Grund als „Goethezeit“ bezeichnet. Wer mehr zu dieser Zeit und der intellektuellen Atmosphäre Deutschlands großer Dichter und Denker erfahren möchte, dem sei das Buch „Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756-1933“ des zeitgenössischen Autors Helge Hesse herzlichst empfohlen.
Für Goethe stellt das Leben eine große Wanderung dar. Den Menschen betrachtete er als Wanderer. Lebenskünstler würden wir heute sagen. In seiner Biographie beschreibt Rainer Holm-Hadulla, worin Goethes Kunst des Lebens bestand: „Goethe war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Dichter und einflussreicher Politiker, sondern hat während seines gesamten Lebens gesucht, geirrt und gelitten. Dabei verfügte er über die Fähigkeit, seelische Leiden auszuhalten und zu kreativer Entwicklung zu nutzen.“ [aus: Rainer M. Holm-Hadulla: Leidenschaft. Goethes Weg zur Kreativität. Eine Psychobiographie]
Seine Wanderung und Entwicklung haben in Frankfurt begonnen. Eine seiner ersten großen kreativen Leistungen waren seine Gedichte an Lili Schönemann. In ihnen fasste Goethe seine Gefühle für seine Verlobte in Worte. Dadurch sprach er der deutschen Jugend um 1775 aus der Seele. Sie war von der übertriebenen Rationalität der Aufklärung abgekühlt. Zu den bekanntesten Versen gehören die folgenden Verse:
„Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.“
Durch Verse wie diese brachte Goethe eine Herzlichkeit und Innigkeit zum Ausdruck, die nicht nur damals unüblich war. Auch heute wirken sie so, da ein gesunder Ausdruck der Gefühle noch zu selten geschieht. Goethe machte es auf Deutsch vor. Die Verlobung wurde zwar nach kurzer Zeit bereits gelöst, doch für die deutsche Sprache und Gesellschaft war sie ein Glücksfall und eine große Bereicherung.
Bevor Goethe Weimar im Jahr 1775 zu seiner Wahlheimat machte, lebte er zwischenzeitlich in verschiedenen Städten. Dazu zählen Leipzig, Straßburg und Wetzlar. Seine Erfahrungen in Leipzig ließ er in seinen Faust einfließen. Seiner Zeit in Wetzlar entsprang der Roman, der ihn in ganz Europa berühmt machte: „Die Leiden des jungen Werther“. In Straßburg war es neben dem dortigen Münster vor allem ein Mann, der Goethes Wanderung auf Erden prägen sollte. Sein Name ist Johann Gottfried Herder. Dieser wurde zu einem Mentor. Herder machte Goethe bekannt mit Volksliedern verschiedener Völker und zeigte ihm auf, welchen Wert sie besitzen. Den Koran las er von Herder angeregt das erste Mal. Große Leistungen in fremden Sprachen und von fremden Völkern anzuerkennen und wertzuschätzen, das war Herders Charakter, den er in Straßburg dem jungen Goethe vermittelte. Dies wurde und blieb zeitlebens einer der Hauptcharakterzüge Goethes.
Von 1775-1786 lebte er in Weimar. Er verließ es zwischendurch lediglich für relativ kurze Reisen. Eine dieser Reisen führte ihn in das heutige Niedersachsen. Ein Denkmal ist ihm am Torfhaus gesetzt, wo der Goetheweg auf den Brocken im Harz beginnt. Im Dezember 1777 schrieb er hier das Gedicht „Harzreise im Winter“, das folgende Verse enthält:
„Denn ein Gott hat
Jedem seine Bahn
Vorgezeichnet,
Die der Glückliche
Rasch zum freudigen
Ziele rennt …“
Goethe glaubte an einen Gott. Das änderte sich im Laufe seines Lebens nicht. Er spricht in Anspielung auf die griechische Mythologie und metaphorisch auch von „Göttern“, doch sagt er selbst in seinen „Maximen und Reflexionen“: „Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.“ Das sind Worte, die so auch auf muslimische Gelehrte und Dichter wie Ibn Arabi, Hafis, Rumi oder Fuzuli zutreffen.
Nachdem Goethe sich von der Arbeit am Weimarer Hof ermattet fühlte und seine Kunst immer mehr in den Hintergrund rückte, reiste er 1786 nach Italien. Er teilte es fast niemandem mit und kehrte 1788 anschließend nach Weimar zurück. Diese Reise verjüngte ihn. In Italien schrieb er Werke um und beendete sie, darunter „Iphigenie auf Tauris“ und „Torquato Tasso“, die zu seinen beispielhaftesten klassischen Dramen zählen. Doch es unterscheidet diese Dramen etwas von klassischen Dramen der Griechen und Franzosen. In klassischen Dramen bis dahin sind die Charaktere statisch und machen keine Veränderung durch. Goethes Charaktere machen eine Wanderung, d.h. eine Entwicklung durch. Torquato Tasso beispielsweise lernt, dass es nicht immer angebracht ist, das Herz unkontrolliert sprechen zu lassen. Wichtig sei es, sich bewusst zu machen, „Wo“ und „Wer“ man sei. Aus der Lebensphilosophie: „Erlaubt ist, was gefällt.“, entwickelt sich der Charakter und erkennt die Weisheit hinter der Lebensphilosophie: „Erlaubt ist, was sich ziemt.“ Das ist nicht bloß gekünstelter Anstand, den Goethe anspricht. Er regt dazu an, bewusst durchs Leben zu gehen und sich darüber klar zu werden, wann und wo es angebracht ist, Gefühle auszusprechen und wann Reserviertheit angemessen ist. Als Leser bekommen wir durch Goethe Werkzeuge in die Hand, um uns auf der großen Bühne des Lebens zu orientieren.
Die Weltgeschichte zu betrachten, hilft dabei sich zu orientieren. Der Mensch kann sehen, wie früher Herausforderungen der Zeit gemeistert wurden. Dieser Blick in die Geschichte und auf die Leistungen großer Persönlichkeiten könnte lähmen. Das sah auch Goethe. Nachdem er aus Italien nach Weimar zurückkehrte brauchte es zwei Jahrzehnte, bis er die „Italienische Reise“ schrieb. In ihr verarbeitete er seine Erfahrungen und Erkenntnisse. Mein absolutes Lieblingszitat ist das folgende. Es demonstriert uns auf eindrückliche Weise Goethes Denkstil:
„Es darf uns nicht niederschlagen, wenn sich uns die Bemerkung aufdringt, das Große sei vergänglich; vielmehr wenn wir finden, das Vergangene sei groß gewesen, muss es uns aufmuntern, selbst etwas von Bedeutung zu leisten, das fortan unsre Nachfolger, und wär’ es auch schon in Trümmer zerfallen, zu edler Tätigkeit aufrege, woran es unsre Vorvordern niemals haben ermangeln lassen.“
(aus: Italienische Reise)
Die großen Kulturleistungen der Menschen in der Vergangenheit stellen eine Inspiration dar. Sie zu betrachten ist Goethe ein Genuss. Er mahnt dazu, sich nicht demotivieren zu lassen vom Gedanken, dass die Leistung nicht ewig währen könnte. Selbst wenn nur Ruinen der Leistung übrig bleiben, wird es eine Inspiration für die Nachwelt sein. Kommende Generationen werden erkennen, dass es einen Menschen gab, der nachgedacht hat und dann zur Tat geschritten ist. Das zu sehen, motiviert aktiv zu werden. Goethe selbst sah in Rom erhaltene Bauten wie das Pantheon oder Kolosseum. Gleichzeitig sah er Ruinen. Das könnte ihn zu dieser Erkenntnis inspiriert haben. Auch er hat Werke geschaffen, die wir heute bestaunen. Goethe würde wohl fragen: Zu was inspiriert es dich, wenn du mein Lebenswerk betrachtest? Was lernst du daraus und was willst du tun?
Nicht bloß Rom und Griechenland waren Goethes Quellen der Inspiration. Die muslimische Geschichte bereicherte Goethe ebenfalls und er führte Bilder muslimischer Dichter ins Deutsche ein. Das Bild des Schmetterlings beispielsweise, aus dem Gedicht „Selige Sehnsucht“, ist ein bekanntes Motiv muslimischer Dichter. Goethes Art auf muslimische Dichter zu blicken, kann jungen, deutschsprachige Muslimen helfen ihre Sprache zu finden. Der deutsche Dichterfürst kann an muslimische Geistesgrößen wie Feriduddin Attar, Rumi, Saadi oder Rumi heranführen. Zugleich erfahren Muslime dadurch, welche Lehren einer der größten Denker des Abendlandes aus ihnen zog. Zum Beispiel schreibt Goethe:
„Ferner kostet’s dem orientalischen Dichter nichts, uns von der Erde in den Himmel zu erheben und von da wieder herunterzustürzen oder umgekehrt. Dem Aas eines faulenden Hundes versteht Nisami eine sittliche Betrachtung abzulocken, die uns in Erstaunen setzt und erbaut.“
[aus: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans]
Isa (a), also Jesus, habe gemeinsam mit seinen Jüngern einen verstorbenen Hund gesehen. Die Jünger beklagten sich über die Hässlichkeit und den Schmutz des Kadavers. Isa (a) jedoch blickte auf die Zähne und lobte ihre Reinheit. Das schreibt der muslimische Gelehrte Nisami. Dadurch vermittelt Goethe jungen, deutschsprachigen Muslimen die Prinzipien und Werte muslimischer Gelehrter. Es geht um den Fokus auf das Schöne. Das Schöne, so Goethes Stil, nimmt er auf, wo immer er es findet. Das wiederum ist eine Herangehensweise, die sich ebenfalls in der Sunna des Propheten Muhammed (s) findet: „Die Weisheit ist das verlorene Gut des Gläubigen. Er nimmt sie dort auf, wo immer er sie findet.“ (Tirmizî, Ilm 19; Ibn Mâdsche, Zuhd 17)
Goethes Denkstil lehrt uns in die Weltgeschichte aller Kulturen zu schauen und das Schöne und Gute anzunehmen und sich davon zu eigenen Werken inspirieren zu lassen. Der muslimische Gelehrte Elmalılı Hamdi Yazır bezeichnet das als „Keşfi kadîm“ im ersten Schritt und „Vâzi cedît“ im zweiten Schritt. Erst betrachten und dann inspiriert selbst hervorbringen. Das ist der Weg der Geistesgrößen verschiedener Hochkulturen.