Tote Angehörige, verlorene Gliedmaßen, Brandwunden: Das Leid, das Menschen in Gaza widerfährt, ist gewaltig. Die Psychologin Katrin Glatz Brubakk versucht vor Ort „Inseln der Ruhe“ zu schaffen.
Seit rund zwei Wochen ist Katrin Glatz Brubakk zurück, doch die Eindrücke der deutsch-norwegischen Kinderpsychologin aus dem Genozidgebiet Gaza sind noch frisch wie am ersten Tag. Glatz Brubakk arbeitete fünf Wochen im Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis im Süden des Gazastreifens. Sie sah Kinder und Erwachsene, die regelrecht in Verband eingewickelt waren, weil sie so viele Brandwunden hatten, und Menschen mit amputierten Gliedmaßen. „Doch die Menschen dort haben nicht nur physische Wunden, sie haben auch traumatische Erfahrungen gemacht, manche gleich mehrere“, sagt die 54-Jährige im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Eine richtige Therapie sei dort aktuell aber nicht möglich. Sie und ihr Team hätten ihren Patientinnen und Patienten deshalb nur eine „psychische Vitamin-Pille“ geben können, wie Glatz Brubakk berichtet. Die auf Trauma spezialisierte Psychologin war mit der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor Ort. „Wir hören zu, das hat einen Wert an sich, oder machen gemeinsam Atem- und Entspannungsübungen.“ Das Ziel sei, den Patienten kleine Inseln der Ruhe zu geben, auf denen sie entspannen können. Das sei enorm wichtig für die psychische Gesundheit von Menschen, die unter einer dauernden Anspannung stünden.
Die Vereinten Nationen werfen sowohl Israel als auch bewaffneten palästinensischen Gruppen Kriegsverbrechen vor. Glatz Brubakks Schilderungen zufolge gibt es in Gaza „keine sichere Ecke“ mehr, „auch nicht in den sogenannten humanitären Zonen“, zu denen Khan Yunis gehört. Kinder wie Erwachsene lebten täglich in Todesangst, könnten aber nicht fliehen. „Eigentlich bräuchten die Menschen eine Traumatherapie, aber vor allen Dingen brauchen sie einen Waffenstillstand, damit sie nicht jeden Tag Angst haben müssen zu sterben.“ Ein sofortiger Waffenstillstand wäre die „beste Behandlung“, so die Psychologin.
Glatz Brubakk berichtet von einem fünfjährigen Jungen, mit dem sie gearbeitet habe. Er habe bei einem Angriff ein Bein verloren, das andere sei gelähmt. Auch der Vater sei verletzt worden und schließlich im Krankenhaus verstorben, während sein Sohn neben ihm gelegen habe. „Dieser Junge lag die ganze Zeit auf dem Bauch, er wollte niemanden angucken und mit keinem reden“, erzählt die Kinderpsychologin.
Nach und nach habe sie Kontakt zu ihm aufnehmen können, erst über Blicke, später über wenige Worte. Schließlich hätten sie über seinen Vater sprechen können, zum Beispiel über die guten Erinnerungen an ihn. „An meinem letzten Tag in Gaza ist er das erste Mal in seinem Rollstuhl rausgefahren und hat sich gezeigt. Wir haben selbstgemachtes Softeis gegessen und er hat richtig lachen können“, erinnert sich Glatz Brubakk. „Das sind Glücksmomente.“
Die Psychologin ist seit zehn Jahren immer wieder Teil von Einsätzen verschiedener Hilfsorganisationen. Allein 13 Mal ist die Deutsch-Norwegerin im inzwischen geschlossenen griechischen Flüchtlingslager Moria gewesen. Über ihre Erfahrungen dort hat sie mit der norwegischen Journalistin Guro Kulset Merakeras ein Buch geschrieben, das in diesem Frühjahr veröffentlicht wurde („Inside Moria“).
Zwischen den Flüchtlingen in Moria und den Menschen in Gaza gebe es viele Gemeinsamkeiten, sagt sie: „Sie mussten auch ihre Heimat verlassen, haben Familienmitglieder verloren, an Mangelernährung gelitten oder Todesängste ausgestanden.“. Ein Unterschied gebe es jedoch, so Glatz Brubakk: So müssten die Menschen im Gazastreifen derzeit jeden Tag um ihr Leben bangen.
Wie groß die seelische Not der Bevölkerung sei, zeige sich dadurch, dass viele Menschen ihr sofort ihr Herz geöffnet hätten. „Sie berichten, wie viele Male sie flüchten mussten und welche Familienmitglieder sie verloren haben“, sagt Glatz Brubakk. „Das ist sehr untypisch für ihre Kultur und zeigt mir, wie groß der Druck ist, wie viel sich angestaut hat.“
Glatz-Brubakk sagt auch, sie habe beobachtet, dass vielen Palästinenserinnen und Palästinensern ihr Glaube in dieser schwierigen Zeit eine Stütze ist. „Der Glaube an Allah ist stark und ich denke, das hilft vielen Menschen hier.“
Wie viele andere hätten auch ihre Kollegen und Kolleginnen im Krankenhaus Angehörige verloren, ein einziger etwa 17 Familienmitglieder auf einmal durch eine Bombe. Glatz Brubakk: „Sie sind im Überlebensmodus. Eine Kollegin sagte mir sehr treffend, dass sie und die Menschen in Gaza nicht das Privileg hätten, zusammenzubrechen.“
Glatz Brubakk war bereits im Januar dieses Jahres im Westjordanland. Sie hofft, Anfang kommenden Jahres erneut nach Gaza reisen zu können – und alle ihre Kollegen lebend wiederzusehen. (KNA/iQ)