MUSLIMISCHE AKADEMIKER

„Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus jenseits der Täterperspektive verstehen“

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Fatih Bahadır Kaya über die Diskriminierungserfahrungen von jüdischen und muslimischen Menschen.

08
12
2024
Fatih bahadir kaya
Fatih bahadir kaya

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Fatih Bahadır Kaya: Ich bin im Jahr 1990 geboren. Nach meinem Abitur begann ich ein Jurastudium an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Später erwarb ich einen Bachelor of Arts in Islamischer Theologie an der Universität Ankara und einen Master of Arts in Soziologie (Hauptfach) an der LMU.

Seit Juni 2022 bin ich Promotionsstipendiat des Avicenna-Studienwerks und forsche im Graduiertenkolleg „Jüdisch-muslimische Lebenswelten aus sozialwissenschaftlicher Perspektive“ an der Ruhr-Universität Bochum.

Im Jahr 2022 veröffentlichte ich die Monographie „Das Bekennerschreiben“ beim Springer VS, in der ich das Bekennerschreiben des Hanau-Attentäters objektiv-hermeneutisch analysiere und dabei Strukturmerkmale und Mentalitäten des Neuen Rechten Milieus empirisch fundiert abstrahiere. 2024 folgte die Veröffentlichung „Die Hinterbliebenen des rechten Terrors“ beim Springer VS, die erstmals die Biographien und Lebenswelten der Hinterbliebenen rechtsterroristischer Anschläge in Deutschland über drei Jahrzehnte hinweg untersucht.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Kaya: Mein Dissertationsprojekt trägt den vorläufigen Titel: „Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen von jüdisch-muslimischen Subjekten. Eine rekonstruktive Studie zur Erschließung konjunktiver Coping-Strategien“. In meiner Dissertation gehe ich den Ungleichheitsstrukturen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus nach. Ich untersuche mit qualitativ-rekonstruktiven Methoden die Erfahrungsbestände von jüdischen und muslimischen Menschen, wie, in welchen Kontexten und mit welchen Situationsbeteiligten sie Antisemitisches und antimuslimisch Rassistisches als solche erfahren. Dabei fokussiere ich die Gemeinsamkeiten der Wahrnehmungen meiner Befragten, indem ich auch auf die Unterschiede zwischen beiden Betroffenheiten verweise.

Es geht mir nicht darum, eine Opferkonkurrenz zu erzeugen oder die Singularitäten beider Ungleichheitsstrukturen zu negieren. Vielmehr bin ich darum bemüht, die antisemitischen und antimuslimisch-rassistischen Erfahrungsaufschichtungen der jüdischen und muslimischen Betroffenen aus deren Perspektive zu rekonstruieren. Somit rücke ich deutlich von der Fokussierung auf die Täterperspektive ab, wie man sie in gängigen Einstellungs- und Umfragestudien findet.

Außerdem geht es in der Dissertation darum, welchen Betroffenheitserfahrungen welche Coping-Strategien folgen. Die prozessuale Betrachtung, aus welchen Betroffenheiten welche Bewältigungsweisen entstehen ist instruktiv, um nachzuvollziehen, wie kurz- und langfristig mit solchen ungleichheitsstrukturierenden Situationen umgegangen wird. Dabei nähere ich mich theoretisch auf das Forschungsprojekt aus einer Bourdieu’schen Perspektive an und versuche anhand der Erzählungen der Interviewees die praktische Dimension antisemitischer sowie antimuslimisch-rassistischer Betroffenheit im Blick zu behalten.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Kaya: Verschiedene Aspekte waren für die Erforschung des Themas ausschlaggebend. Auf persönlicher Ebene spielt meine eigene Betroffenheit eine konstitutive Rolle. Eine Forschung führt gezwungenermaßen auf eine Selbsterkenntnis, die nur auf dem Weg der Objektivierung angeeignet werden kann. Sich wiederholende und den Alltag dominierende Ungleichheitserfahrungen auf dem Gymnasium mit meinen Mitschülern und den Lehrkräften sind dafür impulsgebend gewesen. Außerdem bewegen mich erkenntnistheoretisch interkulturelle Studien, in denen unterschiedliche soziale Gruppe in Bezug auf ähnliche Forschungsfragen untersucht werden können.

In meiner früheren Untersuchung mit dem Titel „Die religiös praktizierenden Transmigrant:innen“ war ich am transnational agierenden Rassismus interessiert. So schloss ich auf das Desiderat im bundesdeutschen Kontext mit qualitativ-rekonstruktiven Methoden beide Ungleichheitsstrukturen (Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus) zugleich zu untersuchen. Dabei hat das Thema natürlich eine gesellschaftspolitisch hochaktuelle Relevanz.

Meine Ergebnisse können für ein tiefergreifendes Verständnis im Hinblick auf die Operationalisierung unterschiedlicher Bewältigungsstrategien beitragen sowie zur präventiven Veränderung jener gesellschaftsstrukturellen Blindheiten führen, die an erster Stelle Antisemitismus sowie antimuslimischen Rassismus bedingen, (re-)produzieren und fortführen.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Kaya: Bisher habe ich keinerlei negativen Erfahrungen gemacht. Ganz im Gegensatz stößt die Studie, ihr Forschungsdesign und ihre bisherigen Forschungsbefunde auf großes Interesse – sowohl auf (inter)nationalen Fachtagungen vor einem Fachpublikum als auch im Kontext von Vorträgen vor zivilgesellschaftlichen Akteur:innen. Einerseits motiviert es mich wissenschaftlich, prozessual zu rekonstruieren:  Welche Situationen aus der Betroffenenperspektive als Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus wahrgenommen werden. Welche Konstellationen, welche situativen Umstände und Beteiligte machen das konkrete Erleben zu einem antisemitischen und antimuslimisch-rassistischen Erleben?

Damit verbunden bin ich daran interessiert, wie sich die Wahrnehmungsmuster mit den konkreten Bewältigungsweisen koppeln lassen – sowohl fallintern als auch fallübergreifend.

Andererseits motiviert es mich gesellschaftlich, empirisch eher auf die Gemeinsamkeiten und konjunktiven Momente der Erfahrungsbestände der Betroffenen zu verweisen als von einem strikt getrennten Nebeneinander auszugehen.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Kaya: Praktisch sind viele Aspekte der Dissertation für muslimische Gemeinschaften in Deutschland instruktiv. Da unterschiedliche Situationen und Ereignisse der Befragten dargestellt werden, wird die Dissertation dazu beitragen zu erkennen, was Antisemitismus für Betroffene ist. Auch sind antisemitische Wissens- und Handlungsbestände relevant, die zunächst von Betroffenen nicht als solche gedeutet werden, aber aus einer antisemitismussensiblen Perspektive als solche zu verstehen sind. Die Quintessenz ist: Die Studie wird das Erkennen des Antisemitismus fördern und für eine Anti-Antisemitismusarbeit sensibilisieren.

Außerdem werden im Hinblick auf das muslimische Sample Situationen und Ereignisse dargestellt, die muslimische Befragte anführen und mit denen der antimuslimische Rassismus adressierbar wird. Auch spielen die Bewältigungsstrategien, die in der Studie rekonstruiert werden, eine konstitutive Rolle dabei, wie mit Ungleichheit in besagten Situationen umgegangen werden kann und welche kurz- und langzeitigen Widerstandspraktiken denk- und anwendbar sind.

Leserkommentare

grege sagt:
In dem Zusammenhang wäre interessant zu wissen, inwieweit der Autor den hierzulande grassierenden Antisemitismus muslimischer Prägung beleuchtet hat. Als Brandbeschleuniger hat sich in der HInsicht der Nahostkonflikt erwiesen mit der Folge, dass Juden in orientalisch geprägten Stadtvierteln nicht mehr ihre Identität zeigen können.
08.12.24
17:24
Minimalist sagt:
Beschäftigen sich muslimische Akademiker aktuell auch mit antiwestlichem & antiqueerem Rassismus von islamischer Seite ausgehend? Das ist ein sehr wichtiges Thema unserer Zeit. Fragen hierzu sind dringend notwendig, zeitgemäß und besonders aktuell.
09.12.24
0:19