Radikalisierung

Je religiöser, desto weniger Extremismus

Wahre Religiosität schützt vor Extremismus: Dr. Cemil Sahinöz zeigt, wie Bildung und tiefes Verständnis der Religion zu Frieden, Toleranz und gesellschaftlicher Harmonie führen.

26
01
2025
Cemil Sahinöz

Wenn Menschen in ihrer Umgebung beobachten, dass jemand sich stärker religiösen Praktiken zuwendet, lösen diese Veränderungen oft Unbehagen oder sogar Panik aus. Der häufige Griff zu Vorurteilen, die mit religiöser Vertiefung gleichgesetzt werden, führt zu der Annahme, dass Religiosität automatisch in Intoleranz oder gar Extremismus münden könnte. Dabei zeigt ein genauer Blick auf das Thema, dass das Gegenteil der Fall ist: Eine vertiefte und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Religion schützt vielmehr vor radikalen Ideologien und extremistischen Einflüssen.

Viele Menschen empfinden Unruhe, wenn jemand z.B. beginnt, auf Halal-Ernährung zu achten, häufiger zu beten oder sich intensiver mit religiösen Texten auseinanderzusetzen. Diese Reaktionen basieren oft auf Missverständnissen oder einer Unkenntnis darüber, was es bedeutet, sich auf echte Religiosität einzulassen. Religion, wenn sie in ihrem Kern verstanden und gelebt wird, ist eine Quelle der Friedfertigkeit, der Toleranz und des inneren Gleichgewichts. Sie lehrt Prinzipien wie Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und den Respekt vor anderen – Werte, die im direkten Widerspruch zu den Prinzipien des Extremismus stehen.

Unwissenheit als Nährboden für Radikalität

Radikale Ideologien gedeihen vor allem dort, wo Unwissenheit herrscht. Menschen, die ihre eigene Religion nicht kennen oder nur oberflächlich verstehen, sind leichter beeinflussbar durch populistische Parolen oder verzerrte Interpretationen. Extremisten nutzen oft Halbwissen und eine fragmentarische Kenntnis der Religion, um ihre ideologischen Narrative aufzubauen. Sie setzen darauf, dass ihre Zielgruppen die ursprünglichen und authentischen Lehren ihrer Religion nicht kennen und so für radikale Gedankengänge empfänglich werden.

Ein Mensch, der jedoch tief in seine religiösen Lehren eintaucht, wird erkennen, dass diese Ideologien in direktem Widerspruch zu den eigentlichen Werten der Religion stehen. Wer den Koran studiert oder die Lehren des Propheten Muhammad (s) versteht, wird feststellen, dass diese Texte den Frieden, die Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und die Ablehnung von Ungerechtigkeit betonen. Eine starke religiöse Bildung bietet somit Schutz vor Manipulation und Indoktrination.

Religiöse Praktiken wie das Gebet, das Fasten und die Reflexion über den Glauben stärken nicht nur die Bindung zu Gott, sondern auch das moralische Bewusstsein und die Fähigkeit, Gutes vom Schlechten zu unterscheiden. Wer sich bewusst mit seiner Religion beschäftigt, lernt, zwischen authentischen religiösen Lehren und verfälschten Interpretationen zu unterscheiden. Dies erschwert es Extremisten, ihre Ideologien in den Köpfen dieser Menschen zu verankern.

Darüber hinaus fördert eine ernsthafte Religiosität die Selbstreflexion und Bescheidenheit. Ein gläubiger Mensch erkennt seine eigenen Schwächen und ist bestrebt, seine Mitmenschen mit Mitgefühl zu behandeln. Diese Haltung ist das Gegenteil des rigiden, dogmatischen Denkens, das radikale Bewegungen kennzeichnet. Extremismus basiert auf einer Schwarz-Weiß-Sicht der Welt, während tief gelebte Religiosität die Komplexität und Vielfalt menschlichen Lebens anerkennt.

Schutz durch Wissen

Die Geschichte zeigt zahlreiche Beispiele dafür, wie religiöse Bildung vor Extremismus schützt. Im islamischen Kontext haben große Gelehrte wie Imam al-Ghazali oder Said Nursi betont, dass Wissen und Weisheit essenziell sind, um die Religion korrekt zu verstehen. Said Nursi warnte eindringlich davor, Religion mit Gewalt zu verknüpfen, und betonte, dass wahre Gläubige Frieden und Toleranz verkörpern.

In modernen Gesellschaften sehen wir ebenfalls, wie Unkenntnis über den Islam und andere Religionen zu Missverständnissen und Vorurteilen führt. Ein gut informierter Muslim wird nicht nur in der Lage sein, Extremismus zurückzuweisen, sondern auch andere aufzuklären und Brücken zwischen verschiedenen Gemeinschaften zu bauen.

Die Verantwortung der Gesellschaft

Anstatt in Panik zu geraten, wenn jemand religiöser wird, sollten wir als Gesellschaft diese Veränderung als Chance sehen. Eine intensivere Religiosität, begleitet von Wissen und Verständnis, macht Menschen zu besseren Nachbarn, Freunden und Bürgern. Sie fördert ethische Prinzipien und moralische Integrität, die für ein friedliches Zusammenleben unerlässlich sind.

Der Schlüssel liegt darin, den Unterschied zwischen authentischer Religiosität und einer oberflächlichen, möglicherweise fehlgeleiteten Ausübung zu erkennen. Bildung und Aufklärung spielen hierbei eine zentrale Rolle. Daher können religiöse Gemeinschaften und Bildungseinrichtungen Wege schaffen, um Menschen den Zugang zu den wahren Lehren ihrer Religion zu erleichtern.

Fazit

Je mehr sich ein Mensch mit seiner Religion auseinandersetzt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er für radikale Ideologien anfällig wird. Tiefe Religiosität ist ein Schutzschild gegen Extremismus, weil sie auf Wissen, Verständnis und moralischer Verantwortung basiert. Anstatt Veränderungen mit Sorge zu betrachten, sollten wir die Vertiefung in den Glauben ermutigen und fördern. So tragen wir zu einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaft bei, in der religiöse Vielfalt als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird.

Leserkommentare

Ekrem Eckehard Bialas sagt:
Ein sehr vernünftiger Artikel von Herrn Dr. Cemil Sahinöz. Imam al-Ghazali und Bediüzzaman Said Nursi sind für mich von großer Bedeutung.
27.01.25
4:54
grege sagt:
Auch hier stellt sich Fragen, was Religiösität bzw. der wahre Kern einer Religion bedeuten. Diese Begriffe sind vielseitig auslegbar. Im Unterschied zur Mathematik gibt es in einer Religion eben nicht die "Wahrheit", so dass sich die jeweiligen Religionen aus vielfältigen Konfessionen zusammensetzen, die sich, wie der Irak oder Syrien, zeigen, feindlich gegenüberstehen. Letztlich ist die gesamte islamische Welt zwischen Atlantik und Hindukusch von dem Problem des religiösen Extremismus betroffen. Soll das jetzt heißen, das viele Muslime noch gar nicht ihre Religion verstanden haben?
27.01.25
20:31
Minimalist sagt:
Schöne, sanfte Worte sind hier zu lesen. Aber der Islam besteht ja aus einem Kern. Und der Kern heißt Mohammed als Vorbild und Koran als heiliger Text. Das ist die grundlegende Basis, die nicht außer Acht gelassen werden darf. Und da gibt es nicht wirklich viel zu interpretieren. Mohammed ist ein Vorbild für IS. Und die Islamisten setzen auch nur das um, was in den Texten steht. Für manche Theologen ist das peinlich und so suchen sie deshalb Zuflucht in Hermeneutik und in moderaten Interpretationen. Aber bei einem Vorbild wie Mohammed, der Menschen enthaupten ließ, der so viele Frauen geheiratet hat, der eine 6-Jährige geheiratet hat, der einen Stamm an einem Tag ausgelöscht hat, obwohl der sich ergeben hatte und vieles andere mehr - all das beinhalten authentische Texte. Und da gibt es nichts zu interpretieren. So formulierte es der ägyptisch-deutsche Publizist und Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad (52), der wegen islamkritischer Werke ständig unter Polizeischutz leben muß, da ihm gefährliche Islamfanatiker nach dem Leben trachten.
28.01.25
0:46
Ethiker sagt:
Wenn man den erneuten Genozid in Gaza zuklatscht, wie im Bundestag dokumentiert, Wenn man eine tiefe innere Freude, eine narzisstische Bestätigung des eigenen Selbstwerts im Größenwahns oder Bestrafungslust bei der Zerstörung der Wahrheit, der echten Menschen und der Natur, wie in Gaza und Libanon, Afghanistan und Irak etc. geschehen, empfindet. Wenn man Vernichtung lebt und bestrebt, wie bei den Raub von Land, Rohstoffen aus Minen und der Zerstörung der Natur in Verbindung mit einen falschen Rechtsempfinden und etablierten überkriminellen Gesetzen, dann muss man den Islam ablehnen, bekämpfen und sogar vernichten wollen. Weil der richtig gelebte Islam als Grundlage von Ethos, Moral und Gesetz für all das nicht einsteht und dieser Praxis Grenzen setzen möchte und sich für ein harmonisches Gleichgewicht einsetzt. Das lässt sich aber nur mit Macht durchsetzen. Extremismusdebatten sind Scheindebatten. Um das was es wirklich geht ist Macht.
28.01.25
16:17
grege sagt:
Unabhängig von der Religionszugehörigkeit sollte ein gesundes Maß an Religiösität eines beinhalten: Die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstreflexion. Die Konflikte in den muslimischen Ländern, wie insbesondere in Syrien, Irak, Sudan oder Libyen sind größten teils Bürgerkriege, in denen sich u.a. islamische Glaubensrichtungen feindlich gegenüberstehen und sich mit schrecklichsten Grausamkeiten überbieten. Solange Islamprotagonisten, wie mein Vorredner, ausschließlich Nichtmuslime für das missliche Dasein des Islams im Hier und Jetzt verantwortlich machen, wird sich an dem Zustand auch nicht viel ändern.
28.01.25
19:43