Gebietsdefinitionen

Dichotome Begriffe nicht zeitgemäß

Die globalisierte Welt lässt sich nicht mehr einfach aufteilen. Das gilt auch für die klassische islamische Einteilung in „Dâr al-Harb“ (Gebiet des Krieges) und „Dâr al-Islam“ (Gebiet des Friedens). Wieso das so ist und welche Alternativen es gibt, diskutiert Prof. Dr. Ahmet Özel.

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2015
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Die Frage, ob Muslime qualitativ zwischen islamischen und nichtislamischen Ländern unterscheiden, wird oft gestellt. Die klassische islamische Literatur definiert Staaten, die auf der Grundlage des islamischen Rechts regiert werden, als „Dâr al-Islam“ („Gebiet des Friedens“). Ihr begriffliches Gegenstück ist „Dâr al-Harb“ oder „Dâr al-Kufr“ („Gebiet des Krieges“ bzw. „Gebiet der Verleugnung“). Heute gelten gemeinhin Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit als „islamische Länder“. Die Eigenbezeichnung „Islamischer Staat“, die sich manche geografischen Gebilde neuerdings gegeben haben, ist – ungeachtet ihrer gesetzlichen Grundlage – hinsichtlich ihrer politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Praxis zumindest sehr fragwürdig.

Die muslimische Unterscheidung von Staatsformen steht hauptsächlich in Zusammenhang mit der Suche nach einem Ort, an dem optimale soziale Bedingungen für den Erhalt muslimischer Identität und die Bewahrung einer an den Grundsätzen des Islams ausgerichteten Lebensweise gegeben sind. Denn der Islam ist keineswegs nur ein abstrakter Glaube. Seine Verwirklichung als ganzheitliche Lebensweise setzt das Zusammenleben von Muslimen in einer auf islamischen Prinzipien basierenden Gesellschaft voraus.

Verdeutlichen lässt sich dies anhand zweier beispielhaft herausgegriffener Koranverse. Im 72. Vers der Sure Anfâl heißt es: „Und jene, welche glaubten, aber nicht auswanderten, sollen in keinem Schutzverhältnis zu euch stehen, bevor sie ausgewandert sind.“ (8:72) Und in Sure Nisâ lesen wir: „Siehe, zu denjenigen, welche wider sich gesündigt hatten, sprechen die Engel, wenn sie sie fortnehmen: »Wozu gehört ihr?« Sie sagen: »Wir waren die Hilflosen im Land.« Sie sprechen: »Ist nicht Allahs Land weit genug, so dass ihr hättet auswandern können?« Ihre Behausung ist die Hölle, und schlimm ist die Fahrt (dorthin). Ausgenommen sind die Schwachen unter den Männern und Frauen und Kindern, die sich tatsächlich nicht zu helfen vermögen und keinen Ausweg finden. Ihnen mag Allah verzeihen; denn Allah ist nachsichtig und verzeihend.“ (4: 97-98)

Diese Verse verlangen ausdrücklich, dass sich Muslime einer islamischen Gesellschaft anschließen, um ihre Religion in vollem Umfang praktizieren zu können. Schon der Prophet Muhammad (s) warnte seine Gefährten: „Haltet euch nicht unter den Muschrikûn (jenen, die Allah etwas beigesellen) auf und vermischt euch nicht mit ihnen. Wer sich unter ihnen aufhält oder sich unter sie mischt, ist wie sie.“ (Tirmizî, Siyar, 42)

Die gesellschaftliche Isolation, in die mit Sicherheit gerät, wer außerhalb eines muslimischen Gemeinwesens sein Leben nach islamischen Prinzipien auszurichten versucht, bewirkt über kurz oder lang eine Anpassung an die nichtmuslimische Umgebung. Deshalb wird die Auswanderung für alle, die diesem Druck glauben nicht standzuhalten oder ihre religiösen Pflichten nicht angemessen erfüllen können, zur Verbindlichkeit erklärt, zumindest aber stark empfohlen.

Entstehung muslimischer Minderheiten

Mit dem Begriff „Hidschra“ verband sich in frühislamischer Zeit die Auswanderung der Muslime in ein nach islamischen Bestimmungen regiertes Gebiet. Mit dem Mongolensturm im 12. Jahrhundert und dem Fall Andalusiens zwei Jahrhunderte später wurden unter muslimischer Herrschaft stehende Regionen durch christliche Invasoren eingenommen. In dieser Situation tauchte die Frage auf, ob und unter welchen Bedingungen die in den betroffenen Ländern verbliebenen Muslime auswandern sollten. Die Ansichten der Gelehrten gingen hier zum Teil weit auseinander.

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Ende der Kolonialzeit im 20. Jahrhundert fanden sich viele Muslime entweder als Minderheiten in den neu entstandenen unabhängigen Staaten oder in einer laizistischen, nach westlichen Vorbildern organisierten Gesellschaft wieder. Eine islamkonforme Lebensweise erschien unter den neuen rechtlichen und politischen Ordnungen nicht mehr möglich. Oftmals gerieten über dies Eigentum und Leben der Muslime in ernste Gefahr. Unglücklicherweise waren selbst diejenigen, die zur Auswanderung bereit gewesen wären, aufgrund finanzieller oder äußerer Restriktionen dazu nicht in der Lage.

Für Muslime wurde in dieser Lage der Schutz ihrer religiösen und kulturellen Identität, die Chance auf ein Leben in Frieden und Sicherheit gegenüber der Auswanderung vorrangig. Die in der Nachkriegszeit einsetzende massenhafte Auswanderung vieler Muslime in westliche Länder ist historisch ohne Beispiel. Folglich gab es für dieses Phänomen im islamischen Recht anfänglich keine genauen Handlungsanweisungen. Einige Gelehrte zogen die Auswanderung einer Gruppe gesellschaftlich diskriminierter Muslime nach Äthiopien in der islamischen Frühzeit als Hinweis auf die Zulässigkeit einer solchen Entscheidung heran. Andere machten die Verpflichtung zur Dawa (Einladung zum Islam) ebenso geltend wie die Notwendigkeit eines technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts in islamischen Ländern. Das dazu notwendige Wissen konnte damals nur im Westen erworben werden. Ausgehend vom Bedarfs- und Notwendigkeitsprinzip, im Hinblick auf Wirtschaftskontakte und die Tatsache, dass die internationalen Beziehungen heute weitgehend auf den Erhalt des Friedens ausgerichtet sind, kann diese Form der Auswanderung als islamisch legal betrachtet werden. Außerdem ist zu beachten, dass in den westlich-demokratischen Gesellschaften Europas und Amerikas die Bedingungen für die Dawa oftmals günstiger sind als in vielen so genannten „islamischen“ Ländern.

Religionsfreiheit in westlichen Demokratien

Unter Religionsfreiheit wird in westlichen Demokratien im Allgemeinen die Freiheit in der Ausübung des Gottesdienstes verstanden. Diese Definition setzt einer Verwirklichung islamischer Prinzipien in allen Lebensbereichen enge Grenzen. Muslime können in dieser Frage nur auf die Toleranz der jeweiligen Gesellschaft hoffen. Insbesondere die westeuropäischen Länder, denen es an historischer Erfahrung im Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt mangelt, reagieren unvorbereitet auf den Anspruch muslimischer Minderheiten, ihre Identität zu wahren.

Es bleibt abzuwarten, ob Politiker und Intellektuelle in diesen Staaten die Assimilierung ihrer muslimischen Mitbürger weiter vorantreiben werden, und welche Folgen das Streben der Muslime nach gesellschaftlicher Teilhabe künftig haben wird. Derzeit beobachten wir einen globalen, dynamischen Wettbewerb verschiedener Gesellschaftssysteme, an dem auch Muslime aktiv teilnehmen. Unter diesen Vorzeichen gewinnt zunehmend eine Politik an Bedeutung, die anstelle der Auswanderung muslimischer Minderheiten in ein islamisches Land – außer im Falle außergewöhnlicher Umstände – auf deren Stärkung im jeweiligen Lebensumfeld setzt.

Der Minderheitenstatus und die Begriffe „Dâr al-Islam“ und „Dâr al-Harb“

Nach der klassisch-islamischen Rechtslehre sind die entscheidenden Faktoren, die über die Zuordnung eines Landes zum Einflussbereich des Islams entscheiden, das Regierungs- und Rechtssystem sowie das individuelle Bekenntnis der Herrschenden. Sofern die zuerst genannten auf islamischen Grundsätzen fußen und islamisches Recht in allen gesellschaftlichen Bereichen angewandt wird, sprechen die Rechtsgelehrten vom „Dâr al-Islam“. Weichen Staatsordnung und Gesetzgebung von den Vorgaben des „göttlichen Gesetzes“ ab, wird das Land der Sphäre des „Dâr al-Harb“ zugeordnet.

Obwohl der Terminus „Dâr al-Harb“ zunächst den Eindruck eines permanenten Kriegszustands zwischen beiden Sphären erweckt, beinhaltet der Sprachgebrauch der klassischen Rechtsgelehrten zumeist einen Sinn, der dem modernen Begriff „Ausland“ am nächsten kommt. Wo er tatsächlich im Wortsinn verwendet wurde, impliziert der Ausdruck „Dâr al-Harb“ die einseitige Aufkündigung des bestehenden Friedens mit dem „Dâr al-Islam“ durch Gewalt und Feindschaft gegenüber Muslimen.

Wie oben angedeutet, kann sich der Status eines Landes auch mit dem Wechsel an dessen Spitze verändern. Welcher Art dieser Machtwechsel konkret ist, darüber gab und gibt es unter islamischen Rechtsgelehrten Meinungsverschiedenheiten, deren Abhandlung den Rahmen dieses Textes sprengen würde. Die Vertragsschlüsse zwischen dem „Dâr al-Islam“ und mit ihm verfeindeten Staaten teilen sich in zwei Kategorien. Ein Staat, der mit dem „Dâr al-Islam“ ein befristetes Waffenstillstandsabkommen schließt, wird zum „Dâr as-Sulh“ (Gebiet des Friedensschlusses). Gewaltanwendung gegen seine Staatsangehörigen ist für die Dauer der Kampfunterbrechung verboten. Kapituliert ein Staat oder stellt sich noch vor einer offenen Kriegserklärung unter den Schutz der islamischen Herrschaft, wird er als „Dâr az-Zimma“ (Gebiet der Schutzbefohlenen) bezeichnet. Die Gelehrten der hanafitischen Rechtsschule unterscheiden hiervon noch einmal das „Dâr al-Muwada“ (Gebiet der Versöhnung), mit dem nur ein befristeter Schutzvertrag geschlossen wurde. Das Volk kann in beiden Fällen seine Regierung frei wählen, die in der Regelung innerer Angelegenheiten autark ist. Allerdings muss die „Dschizya“ (Schutzbefohlenen-Steuer) an die Protektoratsmacht entrichtet werden.

Missbrauch der Begriffe

Ähnlich wie die westlichen Orientalisten haben manche Muslime fälschlicherweise aus der Bezeichnung „Dâr al-Harb“ eine unmittelbare Verpflichtung zum Kampf abgeleitet. Sie berücksichtigten dabei die Veränderungen in den internationalen Beziehungen ebenso wenig wie die besonderen Lebensumstände der Muslime in diesen Ländern. Zur Rechtfertigung eines Guerilla-Krieges in irgendeinem Land wurde dieses zunächst zum „Dâr al-Harb“, alle seine Bewohner – einschließlich der Muslime – zu „Kuffâr“ (Ungläubigen) und als vogelfrei erklärt. Doch nach islamischem Recht sind der bewaffnete Kampf ohne eindeutige Autorisierung durch einen dazu befugten Herrscher und das Töten Unschuldiger verboten.

Auch heute gibt es solche Gruppen. Diese vernachlässigten die in den islamischen Hauptquellen deutlich hervorgehobene Priorität, das eigene Leben in Wort und Tat an den Prinzipien des Islams auszurichten und den eigenen Charakter zu reinigen. Sie messen der Notwendigkeit, Denken und Wissen dem Niveau der heutigen Zeit anzupassen, keinerlei Bedeutung bei. Sie missachten außerdem die Anforderung, die Wahl der Methode beim Aufruf zum Islam und in der Auseinandersetzung den gegebenen Umständen anzupassen, und durch das „göttliche Gesetz“ gezogene Grenzen nicht zu überschreiten. Einige dieser Gruppierungen erklären ein Land zum „Dâr al-Harb“, mit allen Konsequenzen, weil sie meinen, der Zinsnahme durch Banken und der Veruntreuung staatlicher Gelder seien Tür und Tor geöffnet worden. Aber auch Gruppen und Parteien, die in vielen Ländern als legale Regierungsopposition auftreten, und sich die Wiederbelebung einer islamischen Lebensweise auf die Fahnen geschrieben haben, nutzen diese Dichotomie als griffige Slogans für ihre Anliegen. Davor kann nicht genug gewarnt werden!

All diejenigen, die den Islam auf bloße Parolen reduzierten, ohne fundiertes, den Anforderungen der Zeit entsprechendes Wissen und ohne eine geeignete Strategie für die Auseinandersetzung, wurden letztendlich Opfer des Imperialismus, den sie zu bekämpfen vorgaben. Sowohl hinsichtlich seiner Glaubensfestigkeit, seiner Lebensführung, als auch seines Wissens befindet sich der durchschnittliche Muslim heute bedauerlicherweise auf einem Niveau, das ihn weder zu einer internationalen Vorreiterrolle befähigt, noch ihn in die Lage versetzt, Gewaltherrschern und ihren Machtapparaten die Stirn zu bieten. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass wir auch weiterhin erfolglos sein werden, wenn es uns nicht gelingt, in unseren eigenen Ländern einen radikalen Neubeginn zu wagen. Wir müssen einen moralischen Diskurs anstoßen und eine globale Strategie entwickeln. Vorstellungen, die einen Teil der Weltgesellschaft kategorisch zum Feind erklären, haben weder langfristige Erfolgsaussichten, noch sind sie mit der Essenz des Islams vereinbar. Kurzum: Solange wir unser Denken nicht vom Druck der herrschenden Zivilisation befreien, den Geist des Islams nicht wirklich verinnerlichen, und nicht begreifen, wie das Weltsystem funktioniert, solange wird sich an unserer Situation nichts ändern. Und auch unsere Verantwortlichkeiten werden die gleichen bleiben, wenn wir die Länder, in denen wir leben, als „Dâr al-Islam“ bzw. „Dâr al-Harb“ definieren.

Welche Bedeutung haben diese Begriffe in einer globalisierten Welt?

Der Staatsbegriff des klassischen islamischen Rechts stammt aus einer Epoche, in der das zwischenstaatliche Verhältnis weitgehend durch Kriege und wechselnde Allianzen bestimmt wurde. Die Definitionen mittelalterlicher Rechtsgelehrter wurden hauptsächlich von der jeweils aktuellen Situation beeinflusst. Die Feststellung, welcher Staatsform ein Land entsprach, hatte wesentlichen Einfluss sowohl auf die Außenbeziehungen zu diesen Ländern als auch auf die Anwendungsbereiche des islamischen Rechts. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht richtig, Begrifflichkeiten unbeachtet auf die heutige Zeit zu übertragen. Zu berücksichtigen sind sowohl die gravierenden Veränderungen in den internationalen Beziehungen als auch die speziellen Lebensumstände von Muslimen weltweit. Diese Abwägungen entscheiden die Frage, ob und in welchem Umfang Termini des klassisch-islamischen Rechts heutzutage noch anwendbar sind.

Die Vereinbarungen, die unter dem Dach internationaler Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, und im Rahmen zwischenstaatlicher Abkommen getroffen wurden, verpflichten die Mitgliedsstaaten zur Wahrung des Friedens, und zur gegenseitigen Anerkennung staatlicher Souveränität, territorialer Integrität und politischer Unabhängigkeit. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, andere Länder als „Dâr al-Harb“ zu definieren, und den Anspruch zu erheben, über Leben und Eigentum ihrer Bevölkerung nach Gutdünken zu verfügen. Ebenso unangemessen ist die Definition als „Dâr al-Harb“ für Staaten, in denen Muslime nicht nur einen bedeutenden Bevölkerungsanteil bilden und ihre Religion einschließlich der Einladung zum Islam frei ausüben dürfen, sondern zugleich vollumfänglich zur Teilnahme am wirtschaftlichen und politischen Leben berechtigt sind.

Alternative Begriffe

Wer also meint, unter diesen Gegebenheiten unbedingt auf das klassisch-islamische Vokabular zurückgreifen zu müssen, kann Begriffe wie „Dâr as-Sulh“ (Gebiet des Friedensschlusses), „Dâr al-Muwada“ (Gebiet der Versöhnung) oder „Dâr al-Amân“ (Gebiet der Sicherheit) wählen. Mit Sicherheit können wir annehmen, dass auch die Gelehrten des traditionellen Fikh angesichts umfassender Rechtssicherheit in den zwischenstaatlichen Beziehungen, wie wir sie heute vorfinden, andere Definitionen gewählt hätten.

Sowohl aus rechtlicher als auch religiöser Sicht hat sich die funktionelle Bedeutung einer Unterscheidung zwischen Staaten als „Dâr al-Harb“ und „Dâr al-Islam“ bedeutend verringert. Die Anwendung dieser Begriffe steht heute auf dem Prüfstein. An ihrer Stelle sollten neue, adäquatere Definitionen treten. In diese Diskussion müssen zum einen die rechtliche und wirtschaftliche Situation in muslimischen Ländern, ihre Beziehungen untereinander und zu nichtmuslimischen Staaten Berücksichtigung finden. Aber auch die Tatsache einer stetig wachsenden muslimischen Bevölkerung in nichtmuslimischen Ländern, nicht zuletzt aufgrund eines sich verstärkenden Zustroms von muslimischen Immigranten oder Flüchtlingen, muss in das Ringen um tragfähige Lösungen einbezogen werden.