Mit der steigenden Zahl der Konvertiten in Europa stellt sich die muslimische Identität einer neuen Herausforderung. Die Trennung der Religion von der Kultur ist eines dieser Herausforderungen, dessen Folgen sich erst mit der Zeit zeigen werden. Ein Gastbeitrag von Dr. Esra Özyürek.
„Ich wäre niemals Muslim geworden, wenn ich die Muslime vor dem Islam kennengelernt hätte“. Diesen Satz habe ich während meiner insgesamt dreieinhalbjährigen Untersuchung zum Islam unter deutschen Konvertiten immer wieder gehört, oft von sehr unterschiedlichen Menschen, darunter ein Fünfzigjähriger, der nach seiner Begegnung mit iranischen Revolutionären konvertierte, ein deutscher Imam, den seine Versuche, Araber und Türken zum Christentum zu bekehren, zum islamischen Glauben brachten.
Oder von einer 25-jährigen Frau aus Ostdeutschland, die ihrem bosnischen Freund zuliebe den Islam annahm. Murad Wilfried Hofmann, ein ebenfalls zum Islam konvertierter deutscher Diplomat, berichtete am Ende seiner langen Laufbahn über seine Begegnung mit dem deutsch-jüdischen Konvertiten Muhammad Asad. Dieser habe ihm anvertraut, dass er bezweifle, als junger Mann in der heutigen muslimischen Welt noch einmal wie 1926 seinen Weg zum Islam zu finden. „Voll Bitterkeit“, schreibt Hofmann, „teilte er die oft gehörte Meinung, dass man heutzutage im Orient viele Muslime finden kann, aber herzlich wenig Islam, wohingegen man im Okzident wenige Muslime hat, aber viel Islam vorfinden kann“.
Obwohl fast alle von mir befragten Konvertiten den Islam durch die enge Beziehung zu gebürtigen Muslimen kennengelernt hatten, distanzierten sie sich klar von muslimischen Einwanderern. Offenbar lieben deutsche Konvertiten den Islam und in vielen Fällen auch einen Muslim – die übrigen Muslime liebzugewinnen fällt ihnen anscheinend jedoch schwer.
Muslime, und vor allem ihr Glaube, werden gegenwärtig in Deutschland als störend empfunden. Als der ehemalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 sagte, der Islam gehöre „inzwischen auch zu Deutschland“, löste er eine Welle der Empörung aus. Wenige Tage später druckte die bekannte Wochenzeitschrift „Stern“ auf ihrer Titelseite eine Fotomontage, die Wulff mit Bart und Fez zeigte.
In einem derartigen politischen Klima, in dem für ihre Religion kein Platz zu sein scheint, und in dem man Konvertiten gegenüber eher feindselig gesonnen ist, versuchen einige Deutsche für den Islam zu werben, indem sie zumindest gedanklich von Türken und Arabern abrücken. Einige vertreten die Ansicht, der Islam könne durchaus als „deutsche Religion“ verstanden werden, andere plädieren für einen ganz und gar globalisierten Islam.
Beide Gruppen sind überzeugt davon, dass deutsche und muslimische Identität einander nicht nur nicht ausschließen, sondern zusammen sogar zu einer authentischeren religiösen Praxis führen könnten. Wieder andere meinen, Muslim sein sei zugleich auch die einzig richtige Art, Deutscher zu sein. Auf diese Weise bedienen deutsche Konvertiten einerseits die Denkfiguren eines biologischen und kulturellen Rassismus und fordern ihn gleichzeitig ebenso heraus wie die Annahme einer Homogenität der deutschen und europäischen Kultur.
In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf die Widersprüche und Herausforderungen, denen deutsche Konvertiten gegenüber stehen. Ich möchte verstehen, was es bedeutet, den Islam in einer Gesellschaft anzunehmen, in der Muslime zunehmend an den Rand gedrängt und als „fremde Rasse“ betrachtet werden. Es sollen verschiedene Wege aufgezeigt werden, über die konvertierte Deutsche, deren Zahl sich gegenwärtig auf einige Zehntausend beläuft, den Islam mit ihrer deutschen Identität zu vereinbaren und für sich einen legitimen Platz in der Umma, der globalen Gemeinschaft der Muslime, zu erkämpfen versuchen.
Dieses Buch untersucht den Umgestaltungsprozess, der sich durch die scheinbar individualistische und unpolitische Handlung der Konvertiten sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch in der muslimischen Gemeinde vollzieht. Es forscht danach, wie deutsche Konvertiten ihre Bewunderung für den Islam mit einer weitgehenden Marginalisierung der Muslime in Einklang bringen. Wie und warum kann sich jemand einerseits für den Islam begeistern, sich aber gleichzeitig nur schwer mit eingewanderten Muslimen und deren traditionellen Glaubenspraktiken identifizieren?
Was bedeutet es, ein „weißer“ Muslim zu sein, wenn der Islam immer öfter einer bestimmten „Rasse“ zugeordnet wird. Wie positionieren sich deutsche Muslime nach ihrem Übertritt zu muslimischen Immigranten? Und wie beeinflussen ehemals christliche oder atheistische deutsche Muslime den Diskurs über die Beziehung zwischen Ethnie, Religion und gesellschaftlicher Zugehörigkeit in Deutschland?
Indem es den Fokus auf die Erfahrungen autochthoner Europäer richtet, die eine Religion angenommen haben, die in ihrer Herkunftsgesellschaft als fremd betrachtet wird, versucht dieses Buch zugleich, den komplexen Zusammenhang von Vorurteilen und Ausschlussmechanismen zu durchleuchten, der oft als „Islamophobie“ bezeichnet wird. Die Reaktionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und gebürtiger Muslime auf deutsche Konvertiten einerseits, und deren Stellungnahme zu geborenen Muslimen andererseits werfen ein Schlaglicht auf die Überschneidungen zwischen kulturellem und biologischem Rassismus.
Der Islam als eine untrennbar mit muslimischen Immigranten verbundene Kategorie, kann auch von indigenen Europäern bewusst gewählt werden. Lässt sich die Kritik konvertierter an gebürtigen Muslimen als „Islamophobie“ bezeichnen? Was ist von der Verachtung zu halten, die konvertierten Muslimen aus der Mehrheitsgesellschaft entgegen schlägt? Mit anderen Worten: Wie passen Glaube und persönliche Entscheidung zu der rassistisch und religiös begründeten Ausgrenzung von Muslimen in Europa?
Ausgehend von für die gesamte deutsche Gesellschaft bedeutenden sozialen und politischen Entwicklungen konzentriere ich mich vor allem auf die politischen Konsequenzen der Konversion. Die Anwerbung von Millionen muslimischer Arbeiter für den Wiederaufbau des kriegszerrütteten Landes war eine der bedeutsamsten Entwicklungen der Nachkriegszeit, die bis heute fortwirkt. Diese Arbeiter und ihre Familien stellten die bislang homogene deutsche Post-Holocaust-Gesellschaft vor unerwartete Herausforderungen und zwangen sie, sich wieder mit Unterschieden auseinanderzusetzen. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Türken und Deutschen, Muslimen und Christen/Europäern/Säkularen.
Eine weitere, möglicherweise unvermeidliche, Folge war aber auch die gegenseitige kulturelle Durchdringung und eine Überschreitung der Grenzen zwischen den Gegensätzen. Nach der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 nahmen Hunderttausende muslimischer Einwanderer und deren Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit an. Derweil trat eine zunächst kleine, aber stetig wachsende Zahl vormals christlicher bzw. atheistischer Deutscher zum Islam über. Diese Grenzüberschreitungen haben tiefgreifenden Einfluss auf die ethnischen und religiösen Kategorien, weil sie die bisherige Definition von „Deutschen“ und „Muslimen“ herausfordern.
Von der Mehrheitsgesellschaft werden deutsche Muslime aufgrund der weitverbreiteten Annahme einer Unvereinbarkeit von deutscher/europäischer und muslimischer Identität nicht nur sozial ausgegrenzt, sondern als Verräter an der europäischen Kultur, als interne Feinde und potentielle Terroristen stigmatisiert, die überwacht werden müssen. In einem solchen Kontext, in dem der Islam als krasser Gegensatz zu allem Europäischen wahrgenommen wird, gehen neue Muslime schnell auf Distanz zu ihren geborenen Glaubensgeschwistern.
Sie plädieren für einen entnationalisierten und über lokale Traditionen hinausreichenden Islam. Einige deutsche und europäische Muslime vertreten die Auffassung, dass der von seinen erdrückenden Auswüchsen befreite „wahre“ Islam sich hervorragend mit den Werten und Lebensstilen ihrer Heimatländer ergänze. Manche meinen sogar, der Islam ermögliche die Wiederbelebung alter, auf den Grundsätzen der Aufklärung beruhender, aber weitgehend in Vergessenheit geratener Werte wie etwa Bildungseifer und Toleranz gegenüber dem Andersartigen.
Für die nach dem Mauerfall konvertierten Muslime aus den neuen Bundesländern war der Übertritt ferner eine Möglichkeit, ihrer ebenfalls marginalisierten Identität als Ostdeutsche zu entfliehen. Inzwischen übernehmen auch in Deutschland geborene und aufgewachsene Muslime diese Denkfiguren und sprechen sich zunehmend für die De-Kulturalisierung des Islams aus als möglicher Weg zu einer besseren Integration muslimischer Eiwanderer in die deutsche Gesellschaft, ohne dabei die eigenen religiösen Wurzeln kappen zu müssen.
Eine besonders unter Konvertiten inzwischen sehr populäre Auffassung beschäftigt sich allerdings schon gar nicht mehr mit Fragen nach Tradition und Identität, sondern propagiert eine kompromisslose Rückkehr zu den vermeintlichen Wurzeln des Islams. Die Anhänger dieser Strömung isolieren sich nicht nur von der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, sondern grenzen sich auch gegen andere Muslime strikt ab.
Im weltweiten Vergleich weisen Konvertiten unterschiedlicher Konfessionen im Hinblick auf die Beziehung zwischen ihrer Herkunftskultur und der neuen Religion sehr unterschiedliche Einstellungen auf. Die Anhänger evangelikaler Bewegungen in Papua Neuguinea oder Ghana glauben, dass sie dem Eintritt in eine andere Religion einen tiefgreifenden inneren Wandel durchlaufen, der auch die Aufgabe der alten kulturellen Beziehungen umfasst.
Dagegen halten evangelikale Christen in der Türkei und in Indien ihren neuen Glauben für unbedingt vereinbar der angestammten Kultur. Erweckungsbewegungen aller Glaubensrichtungen streben grundsätzlich eine „Reinigung“ der religiösen Praxis von in angeblichem Widerspruch zu dieser stehenden kulturellen Elementen an. Muslimische Missionsgruppen rufen etwa dazu auf, zum ihrer Meinung nach „wahren“ Islam frei von kulturellen Zusätzen, wie er in den Berichten über die islamische Frühzeit dokumentiert sei, zurückzukehren.
Wie klar religiöse Akteure auch immer zwischen Kultur und Religion differenzieren mögen, tatsächlich ist eine Trennung beider Bereiche oft schwierig. Mit Nathaniel Roberts gesagt gibt es auch „keinen natürlichen Standpunkt, von dem man auf Fragen antworten kann“, die sich auf das Wesen von Religion oder Kultur beziehen. Es ist deshalb unabdingbar, die scheinbar parallel verlaufenden Bemühungen, Kultur und Religion zu trennen oder miteinander zu verknüpfen, im Hinblick auf die soziopolitischen Konsequenzen im jeweiligen sozialen Kontext zu verstehen.
So kann eine „Reinigung“ des Islams für junge türkische Frauen den Ausbruch aus der engen Welt der Eltern und größeren sozialen Freiraum bedeuten. Schiitischen Aktivisten im Libanon kann sie zu mehr Selbstverwirklichung und zeitgemäßeren Formen religiöser Praxis verhelfen. Für marokkanisch-niederländische Muslime mag es die Lösung eines Zugehörigkeitsdilemmas bedeuten, die niederländischen Behörden werten den Ruf nach einer „Reinigung“ des Islams hingegen allerdings als Indikator einer wachsenden Radikalisierung.
Ein Hauptargument des vorliegenden Buches ist, dass der Ruf vieler deutscher und anderer europäischer Muslime nach einer „Reinigung“ des Islams im Kontext einer wachsenden Fremden- und Islamfeindlichkeit in einer Gesellschaft verstanden werden muss, in der muslimische und deutsche/europäische Identität als einander diametral entgegengesetzt begriffen werden.
Angesichts von Anfeindungen übernehmen konvertierte Muslime eine aktive Verteidigerrolle für den Islam, indem sie die Religion strikt gegen die vielfach kritisierten Traditionen muslimischer Immigranten abgrenzen. Das Engagement deutscher Muslime für einen „gereinigten“ Islam ist sowohl von den Ansätzen der Erweckungsbewegungen inspiriert als auch von den Idealen der Aufklärung mit ihrer Betonung des rationalen Individuums und einer rein aus der Vernunft abgeleiteten Religiosität.
Dieser Ruf nach einem kultur- und traditionsfreien Islam, der das vernunftbegabte Individuum direkt anspricht, mutet auf den ersten Blick universalistisch an. Im Kontext der aktuellen deutschen Debatten läuft er letztlich auf Partikularismus oder besser: Eurozentrismus hinaus. Einzig der „deutsche“ bzw. „europäische Verstand“ ist demnach fähig, frei von der Last kultureller Zwänge die Essenz des Islams zu richtig erfassen – der „orientalische“ ist es nicht.
Dr. Esra Özyürek ist Dozentin an der London School of Economics und Leiterin des Lehrstuhls „Türkeistudien“. Sie forscht über Religion, Politik und Gesellschaft in der Türkei und in Deutschland. Dieser Text ist eine Zusammenfassung des Buches „Being German, Becoming Muslim:Race, Religion, and Conversion in the New Europe“.