Welche Bedeutung hat Presse- und Meinungsfreiheit nach den Anschlägen auf „Charlie Hedo“? Wo liegen die Grenzen von Meinungsfreiheit und Satire? Und welche Rolle spielen Muslimen in dieser Debatte? Diesen Fragen widmet sich der Politikwissenschaftler, Rassismus-Experte und Blogger Benjamin Opratko.
Noch nie war es einfacher, sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen. Ein, zwei Klicks und aus dem Strand-Selfie vom letzten Griechenlandurlaub wird das Profilbild „Je suis Charlie“, schwarz unterlegt. Oder das drei Jahre alte Cover von „Charlie Hebdo“, auf dem der Prophet Muhammad allen „einhundert Peitschenhiebe“ androht, die sich über die Sonderausgabe „Sharia Hebdo“ nicht totlachen. Oder gleich die Mohammed-Karikatur der rechten dänischen Zeitung Jyllands-Posten.
In den Tagen und Wochen nach den Anschlägen in Paris waren die aufrechten Kämpferinnen und Kämpfer für Meinungsfreiheit überall in den alten wie neuen Medien präsent. Und das ist erst mal gut so: Es zeigt, dass die Freiheit der Rede und der Presse in Europa nicht in Gefahr sind. Jene, die JournalistInnen mit brutalen Mordanschlägen einschüchtern wollten, bleiben erfolglos – und jene, die Angst vor einer vermeintlichen „Islamisierung“ schüren, die hinterrücks die Zensur in Europa wieder einführen würde, werden faktisch widerlegt. Und dennoch hinterlässt die Flut an Bildern, die Standhaftigkeit gegen den Angriff auf diese Freiheiten vermitteln sollten, bei vielen Menschen Unbehagen.
Eines vorausgeschickt: Wenn behauptet wird, Meinungs-, Presse- und Redefreiheit seien Grundlage jeder gelebten Demokratie und unverhandelbar, dann ist das nur richtig. Dass diese Freiheiten deshalb grenzenlos wären, ist aber natürlich Quatsch. In allen modernen Staaten werden bestimmte Redeweisen unter Strafe gesetzt, nicht jede Meinung darf öffentlich geäußert werden. Ob es um nationalsozialistische Propaganda oder Pornografie geht, um Copyrights, Verschwiegenheitsklauseln oder Verleumdung: Nicht alles, was man sagen und drucken kann, darf man auch sagen und drucken. So weit, so eindeutig. Wo diese Grenzen genau verlaufen, wo etwa Meinungen enden und Verhetzung beginnt, ist jedoch alles andere als eindeutig, sondern stets Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen und Konflikte.
Ein Teil des Unbehagens ob der jüngsten Begeisterungswelle für die Meinungsfreiheit speist sich daraus, dass offenbar für viele Menschen schwer nachvollziehbar bleibt, wie diese Grenzen in der gegenwärtigen Debatte gezogen werden.
Nach den Attentaten in Paris häuften sich die Meldungen, dass gegen Menschen in ganz Frankreich aufgrund einzelner Aussagen wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ ermittelt wurde. Dazu gehörten Schülerinnen und Schüler, die sich weigerten, an der Schweigeminute für die Opfer der Anschläge teilzunehmen; ein 16jähriger, der eine Charlie Hebdo-Karikatur („Der Koran ist Scheiße – er hält nicht mal Kugeln ab“) karikierte, indem er den Koran durch eine Charlie Hebdo-Ausgabe ersetzte und den von Kugeln durchsiebten Moslem durch einen CH-Redakteur; und einen Achtjährigen, der in der Schulklasse meinte, er sei für die Terroristen, schließlich hätten die anderen den Propheten beleidigt.
Schließlich wurde auch deutlich, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit je nach Betroffenheit flexibel gezogen werden. Als die Berliner Zeitung irrtümlich unter den anderen „religionskritischen“ Charlie Hebdo-Titelblättern eine Fälschung veröffentlichte, auf der statt des Propheten Muhammad ein jüdischer Rabbi karikiert wurde, nahm die Redaktion nach Bekanntwerden des Fehlers das klar antisemitische Bild von der Homepage und entschuldigte sich am nächsten Tag ausführlich. Die antimuslimischen Cover blieben stehen, „für die Presse- und die Redefreiheit, für die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Religionsausübung“.
Diese Beispiele zeigen, dass es keine technisch order juristisch zu lösende Frage ist, wo die Grenzen der Redefreiheit gezogen werden. Hier werden gesellschaftspolitische Konflikte verhandelt. In der Frage, was legitim auf Titelseiten verbreitet („Der Koran ist Scheiße…“) und was als Angriff auf die Grundfesten der europäischen Demokratie verfolgt werden soll („Charlie Hebdo ist Scheiße…“), verdichtet sich die widersprüchliche Position, die dem Islam in Europa zugeschrieben wird.
Einerseits belegen zahlreiche Studien, dass Musliminnen und Muslime in Ländern wie Frankreich und Deutschland Diskriminierungen und Ressentiments ausgesetzt sind. Gleichzeitig behaupten Akteure wie Thilo Sarrazin oder aktuell die Pegida-Bewegung, dass Europa schleichend „islamisiert“ würde. Noch vor den Pariser Attentaten verarbeitete der französische Bestseller-Autor Michel Houellebecq diese Fantasie der heimlichen Übermacht der Muslime in seinem neuen Roman „Soumission“ – „Unterwerfung“. Darin gewinnt ein muslimischer Kandidat die Präsidentschaftswahlen 2022 und wandelt Frankreich in einen islamische Theokratie um. Solche Beiträge bedienen die verschwörungstheoretisch unterlegte und gegen jede Evidenz vertretene These der islamischen „Unterwanderung“ des Abendlandes.
Das ist auch das Problem mit manchen der „islamkritischen“ Charlie Hebdo-Beiträge. Denn Satire lebt davon, dass sie sich gegen die Obrigkeit auflehnt, dass sie die Herrschenden zur Kenntlichkeit entstellt. Das war übrigens auch Kurt Tucholsky klar, dessen Maxime „Was darf die Satire? Alles!“ in den letzten Wochen so häufig im Munde geführt wurde. Die Satire darf alles, meint er – sie muss bissig, beleidigend, ja ungerecht sein. Dabei ist sie Satire, weil sie sich mit den Machtstrukturen anlegt; in dem Worten Tucholskys, weil sie es sich zum Ziel macht „dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend“.
Wenn nun heute in einem europäischen Land, Muslime und der Islam zum Ziel satirischer Kritik werden und dies, wie im Falle Charlie Hebdos, mit dem Gestus der Rebellion gegen das Establishment vorgetragen wird, dann entsteht ein schräges Bild: Als wäre der Islam nicht Religion und Orientierungspunkt einer Minderheit, die statistisch in allen sozialen Belangen benachteiligt ist, sondern Teil einer herrschenden Ideologie. Damit bedienen solche Karikaturen – ob bewusst oder unbewusst – die rassistischen Verschwörungstheorien von der islamischen Unterwanderung Europas. Das heißt nicht, dass solche Beiträge deshalb von der Pressefreiheit auszunehmen wären. Es geht nicht darum, ob schlechte Satire – und um solche handelt es sich, wenn sie nach unten tritt – verboten werden sollte, sondern darum, sie eben als schlechte Satire zu kritisieren. Auch dieses Recht auf Meinungsfreiheit – zu sagen, was man für schlecht, gefährlich und verhetzend hält – gilt es lautstark und selbstbewusst zu verteidigen.
Wer auf die „Grenzen der Meinungsfreiheit“ besteht, riskiert oft, wie ein übervorsichtiger Babysitter zu wirken. Ihr könnt schon euren Spaß haben, Kinder, aber doch bitte in Grenzen, nicht so wild, passt bloß auf! Jene, die nicht so einfach in den „Wir sind Charlie“-Chor einstimmen wollen, werden gerade nur zu leicht in die Rolle des uncoolen Aufpassers gedrängt. Und die ist keine, die man gerne annimmt. Wenn die Debatte schon auf dem Terrain der „Meinungsfreiheit“ geführt wird – und es spricht viel dafür, sie dort nicht zu belassen – dann könnte man doch auch den Spieß umdrehen und sagen: Wir wollen nicht weniger, wir wollen mehr Freiheiten! Gehört zum Recht auf freie Rede nicht auch das Recht, auf Äußerungen zu verzichten?
Wir kennen den Spruch aus jeder US-amerikanischen Krimiserie: Sie haben das Recht zu schweigen… Was jedem einer Straftat Verdächtigen in den USA zugestanden wird, scheint für Musliminnen und Muslime in aller Welt nicht zu gelten. Die zahllosen öffentlichen Aufforderungen, sich von allen Gräueltaten zu distanzieren, die irgendwo im Namen einer islamistischen Terrorgruppe begangen werden, schaffen ein Klima der Verdächtigung und des Misstrauens gegenüber MuslimInnen. Als hätten sie mit den Attentätern von Paris, den Schlächtern des sogenannten „Islamischen Staates“ oder den Mördern von Boko Haram mehr zu tun als jeder andere Mensch. Den ständigen Distanzierungsaufforderungen selbstbewusst entgegen zu treten und sie zurück zu weisen – nicht, weil man die Taten nicht abscheulich und unerträglich fände, sondern weil man die Implikation, man müsse sich als Muslim zu diesen Taten gesondert verhalten, nicht anerkennt: Auch das ist Meinungsfreiheit. Auch für diese lohnt es sich, einzustehen.